Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 3/1992
Ausgangslage
nie Studie wurde im Rahmen des Schweizer Nationalen Forschungsprogramms NFP 25 "Stadt und Verkehr" erarbeitet. Hans Boesch knüpft darin an mehrere frühere Arbeiten zum Fußgängerverkehr und zur Stadtplanung an ("Der Fussgänger als Kunde", "Der Fussgänger in der Siedlung", "Schulwegsicherung"). Gegenstand der Untersuchung ist der Entwurf von Elementen einer auf dem Fußgänger und Radverkehr aufbauenden "wohnlichen Stadt", in der motorisierter Verkehr weitgehend vermieden wird. Die Langsamverkehrs Stadt kann nach Boesch mit Maßnahmen der Verkehrsplanung allein nicht verwirklicht werden. Er untersucht daher die Wechselwirkungen zwischen dem "physisch ästhetischen Feld" (Verkehrsanlagen, Nahumfeld), den politisch wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Interessensgruppen und Macher), dem psychisch sozialen Feld (Nutzeransprüche an die wohnliche Stadt) und dem planerisch betrieblichen Feld (Siedlungsplanung und, ÖV-Planung). Anhand von 16 Expertengesprächen und einer Literaturanalyse bestimmt Boesch Forschungsdefizite und schlägt weitergehende Untersuchungen vor. Dies ermöglicht ihm, den technokratischen Ansatz einer bloß infrastrukturbezogenen Verkehrsplanung aufzubrechen und die Problemwahrnehmung und Bewerterperspektive verschiedener Akteure als Hemmnis bzw. strategische Voraussetzung für den geforderten Stadtumbau in die Analyse einzubeziehen.
Inhalt
Planungsziele: motorisierter Verkehr soll auf ein Mindestmaß reduziert werden. Quartiergebundene Bewohner sollen alle "alltäglichen" Ziele in ihrem Kleinquartier per Fuß (oder Rad) erreichen können. In Großquartierszentren soll der wöchentliche Bedarf gedeckt werden können. Quartierüberschreitende Verkehrsteilnehmer sollen weitgehend auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen.
Planerischer Ansatzpunkt: zum einen die Verteilung und Hierarchie der Einrichtungen/Nutzungen in der Stadt, zum anderen die attraktive Gestaltung der Fuß und Radwege sowie ihres Nahumfeldes. Wichtige Orientierungsgrößen sind die maximalen Gehdistanzen zu den jeweiligen Einrichtungen bzw. zur Ausübung der jeweiligen Aktivitäten, nach denen sich die Größe der Quartiere bestimmt:
- Kleinquartiere: das maximale Einzugsgebiet des Kleinquartierzentrums soll rund 300 in betragen; in ihm finden sich Grundschule, Einkaufsmöglichkeiten für den tägl. Bedarf, Cafe/Restaurant und eine Bushaltestelle
- Großquartiere: es ist aus mehreren Kleinquartieren zusammengesetzt; Einzugsbereich des Zentrums maximal 1000 m; Grund u. Sekundarschule, Einrichtungen für den wöchentl. Bedarf, Bahnhof; für einen Teil der Nutzer kann eine Quartierbuslinie sinnvoll sein.
- Stadtteil: je nach Stadt und historischem Grundriß fügen sich Großquartiere zu Stadtteilen mit Stadtteilzentrum oder zur Stadt mit einem dann in seiner Bedeutung weniger übermächtigen Stadtzentrum zusammen.
Die Langsamverkehrsnetze erschließen die Quartiere als Erlebnis-, Begegnungs- und Kommunikationsräume. Ihre Gestaltung richtet sich nach den Anforderungen des zielgerichteten wie auch nicht zielgerichteten Fußgängerverkehrs. Für letzteren gehört die Verweilqualität zu einem wesentlichen Ausstattungskriterium. Eine hohe Verweilqualität bedingt Verkehrs und Sozialsicherheit, schafft Vertrautheit und erhöht dadurch die Identifikation mit dem Quartier wiederum eine Voraussetzung für Vermeidung von (Langstrecken-) Verkehr.
Boesch vertritt die These, daß sich der Einzugsbereich und damit die Tragfähigkeit der zentralen Einrichtungen vergrößern, wenn die Fußwege und ihr Umfeld attraktiv gestaltet sind: d.h. hindernisfrei, direkt, verkehrssicher und immissionsfrei sind; darüber hinaus müssen sie soziale Sicherheit bieten. Nutzungsüberlagerungen sollen eine Verkettung von Aktivitäten ermöglichen und gleichzeitig die soziale Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen. Mit solchen Maßnahmen sollen auch die bisherigen Nichtnutzer von Langsamverkehrsnetzen mobilisiert werden.
Bewertung
Psychisch soziales Feld: Der Verwirklichung einer Langsamverkehrs Stadt stehen die mobilitätsfreundlichen Maßstäbe heutiger Gesellschaften entgegen. Es müssen daher Strategien zur Umwertung mobilitätsbezogener Werte entwickelt werden. Boesch sieht auf diesem Gebiet noch Forschungsbedarf.
Politisch wirtschaftliches Feld: Die städtische Reorganisation setzt die Mitwirkung einer Vielzahl von Akteuren voraus:
- Interessensgruppen: Elternvereine, Quartiervereine/Stadtteilgruppen, Gewerbevereine
- Promotoren: Massenmedien, öffentliche Verkehrsunternehmen
- Macher, Verantwortliche: Politiker, Verwaltungen
- Mitbetroffene von Entscheidungen: Anwohner, Handel.
In welchen Formen diese Gruppen zusammenwirken können und wie etwaige Interessensgegensätze ausgeglichen werden können, ist nach Boesch unzureichend geklärt. Wirkungsanalysen werden vorgeschlagen.
Planerisch betriebliches Feld: Maßnahmen betreffen die Veränderung von Nutzungsdichten, aber auch die Abstimmung von Fuß-/ Radverkehr und ÖV.
Titel:
Die Langsamverkehrs Stadt. Bedeutung, Attraktion und Akzeptanz der Fussgängeranlagen. Eine Systemanalyse.Zürich 1992, VIII, 142 S., Abb., Tab., komment. Lit.verz.
Verfasser:
Hans BOESCH
Herausgeber:
Arbeitsgemeinschaft Recht für Fussgänger (ARF Schrift Nr. 14), Zürich
Bezug:
ARF, Klosbachstr. 48, CH 8032 Zürich, Tel. 0041/13836240, Preis: 36 Fr. ISBN 3 952 0290 0 9
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Dezember 1992. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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