Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 7/1994
Ausgangslage
Im Auftrag des Schweizerischen Bundesamtes für Strassenbau wurden von der RAPP Ingenieure und Planer AG in Zürich Ausprägungen des Fussgängerverhaltens einerseits und qualitative (raumstrukturelle) Einflussfaktoren auf die Befindlichkeit und das Verhalten der Fussgänger andererseits untersucht. Ein Ziel dabei liegt darin, Empfehlungen für künftige Verkehrserhebungen zu erarbeiten, um der bisherigen systematischen Unterschätzung des Fussgängerverkehrs entgegenzuwirken.
Inhalt
Sofern Fusswege in Verkehrsbefragungen überhaupt berücksichtigt werden, geschieht dies in Deutschland in der Regel nach der Methodik der KONTIV-Erhebungen, in der Schweiz in ähnlicher Form in den regelmässig durchgeführten Mikrozensen. Fusswege werden dabei nur als eigenständig ausgeführte Wege ausgewertet. Die Mobilität von Fussgängern wird dadurch deutlich unterschätzt, denn alle Wege in Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln sowie kurze Zwischenwege bleiben dabei unberücksichtigt. Die Autoren der Studie schlagen daher als adäquate Erhebungsmethode in Anlehnung an Rolf Monheim den "Ausgangs-Aktivitäten-Ansatz" vor. Der Ansatz geht von den Aktivitätenketten bei einem Ausgang und den daraus resultierenden Wegeketten aus. Berücksichtigt werden neben den eigenständigen wohnungsbezogenen Fusswegen auch die Zwischenwege (zwischen zwei Aktivitäten) und die Wegeetappen (von und zur Haltestelle oder dem Parkplatz). Es wird vorgeschlagen, neben den "klassischen" Wegzwecken auch Serviceleistungen wie das Abholen oder Bringen von Personen sowie Wege mit einem Selbstzweck (Fusswege ohne zweckgerichtete Aktivität) zu erheben.
Im Rahmen einer Piloterhebung wird das Aufkommen der einzelnen Fusswegarten nach sozio-demographischen, verkehrlichen und raumstrukturellen Merkmalen differenziert ausgewertet. Dabei zeigt sich unter anderem, dass mit zunehmenden Fern-Ausgängen (steigender räumlicher Arbeitsteilung) und zunehmender Differenzierung der sozialen Tätigkeiten a) die Fussgängermobilität ansteigt und b) der Anteil eigenständiger wohnungsbezogener Fusswege deutlich zurückgeht und Zwischenwege sowie Wegetappen deutlich an Bedeutung gewinnen. Die Autoren verweisen darauf, dass diese Zusammenhänge möglicherweise eine Erklärung für die immer wieder festgestellte Abnahme des Fusswegeanteils im Zeitablauf darstellen. Mit anderen Worten: die traditionellen Erhebungsverfahren "messen" einen Rückgang bei Fusswegen, obwohl dieser Rückgang sich möglicherweise nur auf die eigenständigen Fusswege bezieht.
Die Ausprägung des Fussgängerverkehrs und die subjektiven Einschätzungen der Fussgänger selbst sind abhängig von Eigenschaften der Fussgänger sowie von dem Selbst- und dem Fremd-Image des zu-Fuss-Gehens. Daneben gibt es räumlich sehr stark divergierende Qualitätsmerkmale für die Sicherheit, den Komfort und die Erlebnisqualität des Gehens. Diese Einflussfaktoren werden von den Autoren für einzelne Raumtypen auf der Basis von Befragungen in der Kleinstadt Brugg (CH) untersucht. Es wird betont, dass das Wohlbefinden der Fussgänger nicht nur von der eigentlichen Verkehrsfläche, sondern von der Beschaffenheit des gesamten Raumes mit seiner Nutzung, seiner Gestaltung und den anwesenden Menschen abhängig ist.
Im Hinblick auf das Image wird u. a. festgestellt, dass sich Fussgänger selbst häufig gar nicht "als Fussgänger" sehen, sondern eher als Nutzer bestimmter Verkehrsmittel, die quasi "nebenbei" auch einmal zu Fuss gehen. Zu-Fuss-Gehen wird allenfalls mit Freizeit, Feierabend, Wandern in Verbindung gebracht oder als Fortbewegungsart im Rentenalter gesehen. Dieses Bild lässt sich, wie die Autoren aufgrund einer Literaturstudie feststellen, auch in der offiziellen Behandlung des Fussgängerverkehrs feststellen. Beispielsweise nimmt der Fussgängerverkehr in erstellten Verkehrskonzepten seit 40 Jahren kaum nennenswerte Textanteile ein.
Voraussetzungen für gute äussere Rahmenbedingungen sind kleinmaßstäbliche Strukturen (als Voraussetzung für Erlebnisvielfalt), strassenorientierte Bauten (sie bieten Kontaktmöglichkeiten und soziale Sicherheit) und Flächennutzungsarten, die während Tag und Nacht ein minimales Fussgängeraufkommen garantieren. Wo attraktive Bedingungen nicht garantiert sind, führt dies zu Umwegen im Fussgängerverkehr oder zu einer Substitution des Fussweges durch einen Verkehrsmittel-Weg. Personen ohne diese Alternative verzichten unter Umständen ganz auf eine Verkehrsteilnahme als Fussgänger. Bei mangelndem Komfort werden Wege in Fussdistanz häufiger mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt. Auch die wahrgenommene subjektive Sicherheit beeinflusst die Fussgängermobilität. Die Autoren stellen fest, dass rund die Hälfte der befragten Fussgängerinnen und Fussgänger Angstgefühle kennt: bei Frauen gilt Dunkelheit als angstauslösend, bei Männern häufiger das Fahrverhalten anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Autofahrer.
Bewertung
Der Zielsetzung nach handelt es sich bei der Studie weniger um ein Planungshandbuch, das Empfehlungen für die konkrete Realisierung von fussgängergerechten Massnahmen bieten könnte. Die im Bereich der Grundlagenforschung angesiedelte Studie gibt jedoch viele Anregungen für mögliche Ansatzpunkte einer adäquaten Berücksichtigung des Fussgängerverkehrs in Erhebungen und Planungen. In dieser Hinsicht wird an verschiedenen Stellen Neuland betreten: bei der Detailanalyse verschiedener Arten von Fusswegen sowie bei der Analyse von Zusammenhängen zwischen Fussgängerbefindlichkeit und den gegebenen Rahmenbedingungen des zu-Fuss-Gehens.
Titel:
Indikatoren im Fussgängerverkehr. - Zürich, Juli 1993
Verfasser:
Beat Greuter, Verena Häberli (Rapp Ingenieure und Planer AG, Zürich)
Herausgeber:
Eidgenössisches Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement - Bundesamt für Strassenbau
Bezug:
Vereinigung Schweizerischer Verkehrsingenieure (SVI), Postfach 155, CH-8034 Zürich, Heft 284
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, November 1994. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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