Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 20/1999
Ausgangslage
Das Land Baden-Württemberg hat sich im Generalverkehrsplan zum Ziel gesetzt, die Verkehrsleistung (Personen-km) im Fußverkehr bis zum Jahr 2010 um 11% zu steigern. Dies ist nach Aussage des (früheren) Ministers für Umwelt und Verkehr, Schaufler, nur durch eine konsequente Förderung des Zufußgehens zu erreichen. Um den Kommunen des Landes Anregungen für eine solche Förderpolitik zu geben, hat das Ministerium in der Stadt Ravensburg einen Modellversuch unterstützt, der die systematische Verbesserung von Fußwegenetzen zum Ziel hatte. Auf der Basis einer in der Stadt Ravensburg 1996 durchgeführten Studie des Planungsbüros Pressmar (Gerlingen) hat das Landesministerium eine an die Fachöffentlichkeit gerichtete Broschüre herausgegeben, die vom Planungsbüro Pressmar erarbeitet wurde. Das Land Baden-Württemberg setzt damit sein Engagement in Sachen Fußverkehr fort, aus dem u.a. schon ein Symposium zum Fußverkehr hervorgegangen war (siehe KLF 10/95).
Inhalt
In der Broschüre nehmen grundlegende planungstheoretische und -methodische Überlegungen einen relativ breiten Raum ein. So wird eine Abgrenzung zwischen einem ausstattungsorientierten und einem nutzerorientierten Planungsansatz vorgenommen; eingehender wird der umweltpsychologische Ansatz von Pressmar dargestellt, der zu den nutzerorientierten Ansätzen zu rechnen ist. Danach wird die Methodik des Ansatzes von Pressmar erläutert und schließlich am Beispiel der Planung in Ravensburg exemplarisch ausgeführt. Am Ende stehen Anforderungen an die Planung und Maßnahmenempfehlungen.
Ausstattungsorientierte Ansätze, die auf technischen Gestaltungsmerkmalen, wie z.B. Gehwegbreiten, basieren, sind aus Sicht der Autoren nicht hinreichend für eine Verbesserung von Fußwegenetzen geeignet.
Sie ermöglichten es nicht, an den vorhandenen Strukturen orientierte Lösungen zu finden, die mit sparsamen Mitteln zu realisieren sind; auch bestünde die Gefahr einer Nivellierung zur "Einheits-Stadtgestaltung" und es sei schwierig, mit Hilfe von Ausstattungskriterien tatsächlich Prioritäten zu setzen.
Pressmar plädiert deshalb für einen nutzerorientierten, umweltpsychologischen Ansatz, der an der Erlebnisqualität aus Sicht der Fußgänger selbst ansetzt und versucht, diese mit verschiedenen Methoden zu erfassen (Beobachtung, Interviews, mentale Landkarten). Dabei soll der Planungsausschnitt möglichst ganzheitlich (subjektiv) abgebildet werden, um zu erkennen, wie die dort gegebenen Situationen auf Fußgänger wirken. Dahinter steht die umweltpsychologische Annahme, daß sich Fußwege aus einzelnen Situationen (mit spezifischen Reiz-Konfigurationen) zusammensetzen, die gedanklich von den Fußgängern zu komplexeren Konfigurationen zusammengesetzt werden. Diese können sich unter günstigen Bedingungen im Bewußtsein zu noch weiter übergeordneten Einheiten, z.B. zusammenhängenden Fußwegnetzen oder mentalen Landkarten, formen. Ein Fußwegnetz ist demnach zuerst einmal ein den Fußgängern bewußtes, vorgestelltes Bild, das je nach den Handlungszielen des Fußgängers die Möglichkeit und auch die Attraktivität des Zufußgehens widerspiegelt. Für den Planungsansatz leitet sich daraus die Erfordernis ab, aus Nutzersicht Netzbrüche oder "weiße Flecken" auf der mentalen Landkarte zu identifizieren. Zudem wird gefordert, die Sichtweisen verschiedener Nutzergruppen zu erfassen und gegeneinander abzuwägen. Fußwegenetze sollten dann so gestaltet werden, daß sie leicht einprägbar sind, eine "gute Gestalt", prägnante Grundfiguration, mit wichtigen Linien, Gebäuden oder Plätzen haben. So sind sie gedanklich leicht reproduzierbar.
Der umweltpsychologische Planungsansatz von Pressmar sieht mehrere Phasen vor: Auf der Basis einer Erfassung der offiziellen Planungsziele bzw. Leitbilder und "halboffizieller " Selbstbilder in einer Stadt ist eine Erfassung des Status quo mit Hilfe von Beobachtungen, quantitativen Erhebungen und Interviews mit Fußgängern vorgesehen. Dazu werden auch Befragungen von Schülern und Kindergartenkindern gerechnet, mit denen subjektive Gefahrenpunkte erhoben werden können (siehe auch KLF 15/97 zur Befragung von Schülern). Ein weiterer Schritt besteht in der Aufzeichnung von mentalen Landkarten auf der Basis von nicht-standardisierten Interviews oder von Karten, die von Fußgängern gezeichnet werden. Diese Karten geben Hinweise, wo in der Wahrnehmung der Fußgänger Brüche in der Netzstruktur oder Imageprobleme von Teilräumen bestehen, aber auch, welche Bilder die bisherige Stadtentwickung erzeugt hat. Die Gründe, warum Wege attraktiv oder unattraktiv sind, sollen in der wichtigsten Phase, der teilnehmenden Beobachtung, ermittelt werden. Deren Ergebnisse sollen vor dem Hintergrund des "psychologischen Fachwissens und theoretischen Repertoires" bewertet werden. Aus den Ergebnissen der jeweiligen Analysephasen werden schließlich nach der Erstellung eines Gesamtbildes einzelne Handlungsansätze entwickelt. Diese können im planerisch-gestalterischen Bereich liegen oder z.B. Imagemaßnahmen umfassen. Am Beispiel der in Ravensburg durchgeführten Modellstudie werden die Vorgehensweise und die Ergebnisse von Arbeiten in den beschriebenen Phasen dargestellt und die entwickelten Maßnahmen beschrieben.
Bewertung
Die Broschüre präsentiert ausführlich einen innovativen Ansatz, dessen Intention in der vorliegenden Beschreibung gut nachvollziehbar ist. Das vorgestellte Phasenkonzept kann im Sinne eines Leitfadens auch bei Planungen in anderen Städten aufgegriffen werden. Das Betonen einer nutzerorientierten Planung gerade beim Fußverkehr ist zu begrüßen. Die Unterschiede zwischen einem ausstattungs- und einem nutzerorientierten Ansatz werden vom Autor in planungspraktischer Hinsicht allerdings zu sehr zugespitzt. In dem von Pressmar entwickelten und angewandten Phasenkonzept finden sich mehrmals Arbeitsschritte, bei denen die verkehrliche Struktur und die Situation in Teilräumen auch angebotsseitig analysiert wird. Unter anderem geschieht dies bei der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Vergleichbare Wegbeschreibungen finden sich, wenn auch nicht im umweltpsychologischen Ansatz verankert, häufig auch in anderen Konzepten zum Fußverkehr (so z.B. im Fußwegekonzept für die Trierer Innenstadt, vgl. KFL 1/92, und im Konzept für den Bremer Stadtteil östliche Vorstadt, vgl. KLF 13/97).
Nicht einfach nachvollziehbar ist, wie und mit welchen Prioritäten die Arbeiten der einzelnen Phasen des Ansatzes von Pressmar zu Handlungsempfehlungen zusammengeführt wurden. Interessante Ergebnisse bringen die in Ravensburg entwickelten mentalen Landkarten. Insbesondere gibt es zu denken, daß in diesen Karten - von Fußgängern - Kfz-Strukturen dominieren, während die potentiellen Achsen und Knotenpunkte des Fußwegenetzes kaum repräsentiert sind. Letztlich heißt das, daß auch Fußgänger die Stadt subjektiv aus Autofahrersicht strukturieren. In derartigen überraschenden qualitativen Ergebnissen liegt sicher die Bedeutung dieser Methodik, wenngleich Pressmar relativierend anführt, daß das Konzept der "mental maps" in der konkreten Planung nur begrenzt einsetzbar ist. Es ist zu begrüßen, daß die Broschüre in größerer Stückzahl an die interessierte Öffentlichkeit abgegeben wird und das Land auf diese Weise einen Know-how-Transfer fördert. Die Broschüre ist reichhaltig mit Plänen ausgestattet; allerdings wird die Lesefreude durch die sehr kleine Schrift geschmälert.
Titel:
Leitlinien zur systematischen Verbesserung von Fußwegenetzen.- Stuttgart, Dez. 1997.
Verfasser:
Planungsbüro Pressmar.
Bezug über den Herausgeber:
Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg, Hauptstätter Str. 67, 70178 Stuttgart. Ansprechpartner: Claus Selbmann. Preis: kostenlos.
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Juli 1999. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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