Foto: Cody Lannom, Unsplash

Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 24/2000

Ausgangslage

Noch bis in die 1970er Jahre hinein wurde der Fußverkehr in Verkehrsbefragungen in der Regel nicht erhoben. In der KONTIV 1976 wurde erstmals in eine deutschlandweite Verkehrsbefragung auch der nicht-motorisierte Verkehr einbezogen. Seither liegen aus mehreren KONTIV-Erhebungen (1975/76, 1982 und 1989) Daten zum Anteil von Fußwegen am Gesamtverkehr vor. Ergänzt werden diese Daten durch die schon in der ehemaligen DDR etablierten SrV-Erhebungen für ostdeutsche Städte sowie eine Fülle von - qualitativ sehr unterschiedlichen - lokalen Verkehrsbefragungen.

Bisher hatten alle diese Befragungen bezüglich des Fußverkehrs mit mehreren methodischen Problemen zu kämpfen: Personen, die sich nicht an den Befragungen beteiligen, führen überdurchschnittlich viele Fußwege durch (Problem der non-responses); zudem werden Fußwege in Fragebögen und bei telefonischen Interviews überdurchschnittlich häufig "vergessen" (non-reported trips). Zudem finden Fußwege nicht nur als "eigenständige" Wege, sondern auch entlang eines Weges in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln als Wegetappen statt. Eine "richtige" Erfassung des Fußverkehrs stellt daher sehr hohe Anforderungen an die Qualität des Befragungsdesigns. Mit dem von Socialdata entwickelten "Neuen KONTIV-Design" werden Lösungen für diese methodischen Probleme angeboten. Vorgehensweise und Ergebnisse werden in einer im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (Bast) erstellten Studie vorgestellt, für die Daten aus insgesamt 126 Socialdata-Erhebungen mit rund 205.000 Personen zusammengeführt wurden.

Inhalt

Wegetappen: Eine Besonderheit des "Neuen KONTIV-Designs" ist die Berücksichtigung von Wegetappen mit Hilfe einer telefonischen Nachexploration bei den Befragten. Bisher wurden solche Wegetappen in deutschen Verkehrsbefragungen (anders als im Schweizer Mikrozensus Verkehr) nicht erhoben. "Als (Fortbewegungs-)Etappe wird jene Teilstrecke einer Ortsveränderung bezeichnet, die - ohne Unterbrechung - mit dem gleichen Verkehrsmittel zurückgelegt wird und in der die Aktivität unterverändert bleibt."

Z.B. besteht ein Weg zur (Aktivität) Arbeit, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wird, mindestens auch aus je einem Zugangs- und Abgangsweg zu Fuß und mindestens einer Etappe mit einem öffentlichen Verkehrsmittel (im Falle eines Umstiegs sind es mehrere ÖV-Etappen). In traditionellen Verkehrserhebungen würde für den betreffenden Weg nur das Hauptverkehrsmittel "ÖV" erfasst werden. Auf der Basis der untersuchten rund 615.000 Wegen (bis 100 km, im öffentlichen Verkehrsraum, von Personen ohne Alterseingrenzung), die nach Sozio-Demographie, non-response, non-reported trips und Jahreszeit gewichtet und auf das Jahr 1995 hochgerechnet wurden, zeigt sich folgendes Bild:

Jeder Weg setzt sich im Schnitt aus 1,86 einzelnen Etappen zusammen (ohne markante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sowie Groß- und Kleinstädten, aber im Durchschnitt deutlich mehr Etappen bei Männern als bei Frauen). Dabei findet bei jedem Weg im Schnitt eine Fußwegetappe statt. Betrachtet man die Summe der Wegetappen, ist das Zufußgehen das mit Abstand wichtigste "Verkehrsmittel": 58% aller Wegetappen sind Fußwege.

Wege: In der Studie wird v.a. die Beobachtungeinheit "Weg" genauer untersucht. Betrachtet man die Wege, bei denen verschiedene Verkehrsmittel benutzt werden, dann werden pro Weg im Schnitt 1,5 Verkehrsmittel benutzt (zwei ÖV-Etappen zählen bei dieser Betrachtung als ein Verkehrsmittel). Bei 73% aller Wege wird (auch) zu Fuß gegangen, d.h. handelt es sich um eigenständige Fußwege oder Wege mit mindestens einer Fußwegetappe (z.B. vom Parkplatz mit einem anschliessenden Fußweg zum Ziel).

Dieser Anteil der Fußwege variiert nicht nach Tagestypen, aber nach den Merkmalen Alter (z.B. hoher Anteil bei Senioren), Ost/West (höherer Anteil in Ost-Deutschland), Stadtgröße (höherer Anteil in Städten ab 100.000 Einw.). Eine hohe Bedeutung hat das Zufußgehen bei Verkehrsteilnehmern, die mindestens einmal am Tag den ÖV benutzt haben. Dies spricht dafür, sich planerisch noch stärker den Haltestellen und Schnittstellen im ÖV zuzuwenden.

Fußwegzu- und abgänge: Fußwege zum und vom (öffentlichen) Parkplatz sind im Mittel je 200 m, Wege zu und von den ÖV-Haltestellen im Schnitt 300 m lang. Insgesamt werden pro Person und mittlerem Tag 1,5 km (von im Schnitt 22 km) zu Fuß zurückgelegt (Fußwegetappen eingeschlossen).

Wege nach Hauptverkehrsmitteln: Lässt man die Wegetappen außer Acht (d.h. mit eigenständigen Fußwegen, ohne Verkehrsmittelkombination), wurden 1995 nur 24% aller Wege (alte Länder 23%, neue Länder 29%) zu Fuß zurückgelegt. In den neuen Ländern lag der Anteil der reinen Fußwege 1972 immerhin noch bei 51%.

Wegdauer/Exposure: Von der täglichen Unterwegszeit pro Person entfallen 22 Minuten (34%) auf Fußwege (Fußwegetappen eingeschlossen).

Empfehlungen: Die Autoren nennen eine Faustformel, mit der man behelfsmäßig den Anteil von Fußwegeetappen aus vorhandenen Verkehrsbefragungen abschätzen kann. Sie empfehlen, in die Verkehrsmodellierung stärker als bisher den Fußverkehr zu integrieren und bei Planungen Fußwegetappen (v.a. auch in der Kombination mit dem ÖV) sowie kurze eigenständige Fußwege besser zu berücksichtigen; zu diesem Zweck werden auch kleinräumige Haushaltsbefragungen empfohlen. Die Befragungen dürfen jedoch kurze Fußwege (z.B. unter 500 m) nicht ausschließen, sie müssen auch die Mobilität von Kindern (unter 6 Jahren) erfassen und sollten Wegzwecke nur teilstrukturiert abfragen.

An die Befragungen sollen folgende Anforderungen gestellt werden: eine Ausschöpfung von mindestens 70% und die Gewichtung nach non-response und non-reported trips.

Bewertung

Die Studie liefert umfangreiche Daten zu einem in den bisherigen Diskussionen vernachlässigten Aspekt des Zufußgehens: den Wegetappen. Sie ist damit eine gute Argumentationsgrundlage v.a. für die kommunale Planung. Die Studie betont die Wichtigkeit der Einhaltung hoher methodischer Standards bei Verkehrsbefragungen. Das präsentierte Verfahren zur behelfsmäßigen Abschätzung von Fußwegetappen aus vorhandenen Befragungen hätte allerdings besser erläutert werden sollen. Unverständlich ist, warum der Forschungsbericht nicht zusammen mit dem ergiebige Tabellenanhang in einem Band veröffentlicht wurde (der 45-seitige Anhang muß extra bei der Bast angefordert werden).

 

Titel:

Kenngrößen für Fußgänger- und Fahrradverkehr. Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen, Reihe Mensch und Sicherheit, Heft M 109), Bergisch Gladbach, Sept. 1999

Verfasser:

Werner Brög und Erhard Erl

Bezug:

Wirtschaftsverlag NW, Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven, Tel. 0471/94544-0), ISBN 3-89701-401-7

 

Impressum:

Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, September 2000. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.