Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 29/2001
Ausgangslage
Planung, die sich explizit auf den Fussverkehr bezieht, war lange Zeit hinweg auf die Einrichtung und Ausdehnung von Fußgängerzonen und Fussgängerbereichen beschränkt. Welche Prozesse hinter einer solcherart eingegrenzten Stadtverkehrsplanung stehen, analysiert Ulrich Seewer in seiner Doktorarbeit anhand von vier Einzelfallstudien, deren Ergebnisse im Hinblick auf die Untersuchungshypothesen vergleichend betrachtet werden. Einbezogen wurden die Städte Bern, Zürich, Aachen und Nürnberg. Die umfangreiche Arbeit baut methodisch auf Literaturanalysen, qualitativen Inhaltsanalysen von diversen Quellen (z.B. Zeitungsartikeln), Begehungen und Beobachtungen in den Städten, der Analyse von spezifischen Fallbeispielen, Gesprächen mit Akteuren sowie 24 „problemzentrierten Interviews“ mit Akteuren in den Städten auf (je Stadt fünf bis sieben Interviews).
Inhalt
Die vier betrachteten Städte machten trotz ihrer strukturellen und verkehrspolitischen Verschiedenheit eine recht ähnliche Entwicklung durch. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurden in Zürich, Bern und Nürnberg Fussgängerzonen eingerichtet (in Aachen 1972). Ulrich Seewer bewertet sie als Element der autogerechten Stadt, weil sie auf eine vollständige Trennung der Verkehrsmittel zielen und in Deutschland in idealtypischer Form als „Inseln für Fussgänger“ von einem mehrspurigen Cityring mit einem Kranz von Parkhäusern umgeben sind. Die Planung konzentrierte sich in der Folgezeit vor allem auf Möglichkeiten der „Verkehrsentlastung“ durch Strassenbaumaßnahmen und Maßnahmen im öffentlichen Verkehr. Wichtiges Diskussionsthema war hier auch die Durchfahrbarbeit der Innenstädte im Autoverkehr. Ausserhalb der Innenstädte wurden in den 80er Jahren verschiedene Ansätze der Verkehrsberuhigung umgesetzt.
Wichtige Unterschiede zwischen den schweizer und deutschen Städten in Bezug auf Fussgängerzonen liegen darin, dass in Nürnberg und Aachen im Gegensatz zu Zürich und Bern ein sehr großer Teil der Innenstadt aus einer Fussgängerzone besteht. Diese ist mit einem Cityring und Parkhäusern für den MIV gut erreichbar, was zu vergleichsweise hohen MIV-Anteilen führt. In den schweizer Städten sind die Hauptverkehrsstraßen der Fußgängerzonen noch mit dem öffentlichen Verkehr erschlosssen und die Besucher kommen auch mehrheitlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Zentrum. In Deutschland war damit auch das Einzelthema Parken vergleichsweise wichtig, während in den schweizer Städten das Konzept Fußgängerbereich eher in den Zusammenhang der gesamtstädtischen Verkehrspolitik gestellt wurde.
Neben der Verwaltung als zentralem Akteur traten in den betrachteten Städten im Planungsprozess weitere Akteursgruppen in jeweils spezifischer Stärke auf: In den deutschen Städten waren dies vor allem die Organisationen des Einzelhandels. Interessenvertretungen von Verkehrsteilnehmern agierten vor allem in Zürich und in Bern; in Deutschland spielten entsprechende Verbände bis vor kurzem keine Rolle. Fussgängerverbände und Anwohner traten in keinem Fall als wichtige Stimme in Erscheinung. Die Medien standen in den schweizer Städten eher für eine Erweiterung der Fußgängerbereiche, in den deutschen Städten eher dagegen. Netzwerke von Akteuren etablierten sich sehr unterschiedlich: am ehesten noch in Zürich und in Aachen (als Netzwerk „hinter den Kulissen“). In Bern konnte sich kein Netzwerk bilden, in Nürnberg kam der Versuch, ein solches zu schaffen, zu spät. In dieser Stadt wurden nach einem politischen Machtwechsel sogar Maßnahmen im Bereich der Innenstadt (Straßensperrungen) wieder aufgehoben, um die Erreichbarkeit für den MIV zu verbessern. Die Erreichbarkeit (vor allem von Parkplätzen) sowie die Einkaufsattraktivität waren in allen Fallstädten die beiden dominierenden Themen der Diskussion.
Hoheitliche Planungen von Verwaltungsexperten unter ausschließlicher Mitwirkung von Fachplanern gehören für den Autor der Vergangenheit an. Erfolge bringen seiner Meinung nach nur Planungsmodelle, bei denen die relevanten Akteure in alle Schritte der Planung einbezogen werden; deshalb ist der Aufbau eines Netzwerkes, in dem möglichst alle Beteiligte vertreten sind, erforderlich. Idealerweise sind Win-Win-Situationen anzustreben. Die Verwaltung sollte dabei Grundlageninformationen liefern, aber auch zwischen den verschiedenen Positionen vermitteln und Gruppen vertreten, die kein Sprachrohr haben. Notwendig sind auch Grundlagenuntersuchungen, unter anderem zum Fußverkehr, die in keiner der untersuchten Städte während der Planungsprozesse vorlagen.
Bewertung
Die umfangreiche und bei den Fallanalysen sehr detaillierte Studie richtet den Blick auf die bisher selten betrachteten Entscheidungsprozesse zur Verkehrsplanung, die man als Schlüssel für das Verständnis der heutigen verkehrlichen Situation ansehen kann. Verbesserungen für Fußgänger sind am ehesten dann zu realisieren, wenn die Belange dieser Verkehrsteilnehmer mit langem Atem in einem Netzwerk vertreten werden. Die Arbeit schärft den Blick für die formellen, aber auch informellen Mechanismen, die hinter Planungsentscheidungen stehen.
Titel:
Fussgängerbereiche im Trend? Strategien zur Einführung grossflächiger Fussgängerbereiche in der Schweiz und in Deutschland im Vergleich in den Innenstädten von Zürich, Bern, Aachen und Nürnberg. ( Geographica Bernensia, Heft G 65), Bern 2000, 316 Seiten
Verfasser:
Ulrich Seewer
Bezug:
Geographica Bernensia, Hallerstr. 12, CH-3012 Bern, e-mail:
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Dezember 2001. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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