Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 42/2005
Ausgangslage
Das laufende Projekt SIZE im Rahmen des fünften Forschungsrahmenprogramms der Europäischen Union untersucht die Mobilität als Element der Lebensqualität älterer Menschen. Das dreijährige Projekt wird von einem interdisziplinür zusammengesetzten Konsortium von Wissenschaftlern aus den Ländern Österreich, Irland, Italien, Schweden, Polen Tschechische Republik, Spanien und Deutschland (Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen und Stadtseniorenrat der Stadt Nürnberg) bearbeitet. Die Koordination übernehmen das Institut für Soziologie der Universität Wien und FACTUM. in Zwischenberichten sind Ergebnisse der ersten Projektphasen veröffentlicht worden: Ein Sachstandsbericht mit ausgewählten Forschungen zum Thema in den einzelnen Ländern, ein Methodikkonzept sowie die Ergebnisse von qualitativen Befragungen von älteren Bürgern, Entscheidungstrügern und Experten der jeweiligen Länder.
Inhalt
Der Sachstandsbericht wertet die Ergebnisse von nationalen und internationalen Projekten aus, in Deutschland z.B. die Projekte FRAME (BMBF), ANBINDUNG (Bundestamilienministerium), MOBILATE (EU) und PROMPT (EU). Die Auswertung lüsst erkennen, dass ältere Menschen als Fußgänger seiten explizit Gegenstand der Forschung sind, am ehesten noch im Zusammenhang mit Verkehrssicherheitsfragen, in wenigen Studien auch in Bezug auf eine seniorengerechte Wohnumgebung. Breiteren Raum nimmt die Verkehrsbeteiligung älterer Menschen als Autofahrer ein oder es wird erforscht, welche überwiegend technischen Voraussetzungen der öffentliche Verkehr erfüllen soll. Die meisten Studien betonen, dass die Mobilität eine wesentliche Voraussetzung für eine hohe Lebensqualität im Alter ist. Auf die Bedeutung des Autobesitzes als Faktor des subjektiven Wohlbefindens und der Identität im Alter wird in mehreren Studien hingewiesen.
Die im Rahmen von SIZE in Deutschland befragten Experten schätzen die Bedingungen für das Zufußgehen als eher gut ein. Sie verweisen aber auf städtebauliche Fehlentwicklungen, die zu einem Verschwinden des Zufußgehens beitragen und Angstgefühle von älteren Fußgängerinnen im öffentlichen Raum verstärken können.
Mit älteren Bürgerinnen wurden FokusGruppen Diskussionen sowie Tiefeninterviews durchgeführt, die ein differenziertes Bild ihrer Mobilitätsanforderungen zeigen. Die meisten der in Deutschland befragten, vorwiegend Jungen Alten", schätzen ihre eigenen Schwierigkeiten im Verkehr als gering ein. Die Befragten sind mit den vorgegebenen verkehrstechnischen Bedingungen relativ zufrieden. Sie weisen aber darauf hin, dass sie häufig durch "Kleinigkeiten", wie z.B. nicht abgesenkte Bordsteine an Überwegen, behindert werden. Ein großer Problemkreis betrifft dagegen die sozialen Rahmenbedingungen der Mobilität:
a)"Entfremdung" von der Wohnumgebung, die unverständlicher und ungemütlicher wird;
b) Gefühle der Unsicherheit aufgrund der Rücksichtslosigkeit anderer Verkehrsteilnehmer (z.B. Radfahrer oder Skater auf Gehwegen);
c) finanzielle Restriktionen, die als eine Ursache von Mobilitätseinbußen wahrgenommen werden; d) Komfortbeeinträchtigungen, weil bei den für Senioren wichtigen Infrastrukturen (öffentlichen Toiletten, Bänken und Sitzgelegenheiten an Haltestellen) gespart wird.
Das Zufußgehen wird von den Interviewten als wichtig wahrgenommen und in eine Verbindung mit der Möglichkeit gebracht, autonom zu leben. Für die Zukunft werden eher Verschlechterungen erwartet, etwa beim Winterdienst, infolge zunehmender Rücksichtslosigkeit von Auto und Radfahrern sowie zunehmendem Verkehr. Hinzu kommt die Angst vor ,Übergriffen und Belästigungen als einem wichtigen Mobilitätshindernis. Von den Befragten werden nur wenige Verbesserungsvorschläge gemacht, möglicherweise wegen einer gewissen Resignation in Bezug auf die Wirksamkeit technischer Verbesserungen. Im Mittelpunkt der Vorschläge stehen die Orientierung im Verkehr und die Sicherheit, beim öffentlichen Verkehr persönliche anstelle automatisierter Dienstleistungen.
Nimmt man einen internationalen Vergleich vor, so werden die Bedingungen für das Zufußgehen von den deutschen Senioren als relativ gut eingeschätzt. Die in Deutschland festgestellten Bedrohungsgefühle im Verkehrsraum sind in anderen Ländern in ähnlicher Weise vorzufinden.
Bewertung
Die qualitative Untersuchungsmethodik der Studie fördert neue Einsichten zur Mobilität von Senioren zutage. Sie zeigt eine Diskrepanz zwischen den eher auf verkehrstechnische Lösungen fokussierten Experten und den eher von den sozialen Rahmenbedingungen der Mobilität beeinträchtigten älteren Menschen auf. Sie gibt Hinweise auf bisher wenig verfolgte Ansatzpunkte zur Gewährleistung der Autonomie älterer Menschen bis ins hohe Alter: den Abbau von Hindernissen für die Mobilitätsbeteiligung, die vor allem in den sozialen Rahmenbedingungen zu sehen sind. Diese betreffen das im Verkehrsraum vorherrschende "soziale Klima" gegenüber älteren Menschen, die Rücksichtnahme anderer Verkehrsteilnehmer, die Sicherheit vor Übergriffen, eine gute Orientierung und Vertrautheit im öffentlichen Raum und eine spezifischere Berücksichtigung der Anforderungen von Senioren in der Planung.
Damit wird erkennbar, dass eine seniorengerechte Verkehrsplanung sich nicht auf rein verkehrstechnische Verbesserungen beschränken darf und den Dialog mit älteren Menschen suchen muss.
Titel:
SIZE life quality of senior citizens in relation to mobility conditions. Deiivercible D3: State of the art reporl (Mal 2003). Delivercibles D5 and D6: Resulls of focus group Interviews cind in depth interviews with senior citizens and experts (Dez. 2003).
Herausgeber:
SIZE Konsortium
Bezug:
kostenlos als downioad unter: www.size prolect.at
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, März 2005. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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