Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 62/2010
Ausgangslage
Der Gestaltungs- (und Verfahrens)grundsatz des Shared Space, des gemeinsam genutzten (Verkehrs-)Raums, wurde im Rahmen eines EU-Projektes in sieben europäischen Gemeinden umgesetzt (in Deutschland in Bohmte). In vielen anderen europäischen Gemeinden finden sich weitere Projekte, die unabhängig davon Ideen des Shared Space verwirklicht haben, auch in Deutschland. Das „Keuning Instituut“ in den Niederlanden fasst den Begriff weit - für alle Planungen, die zu mehr Rücksichtnahme im Verkehr auf gemeinsam genutzten Flächen führen und mit Bürgern vor Ort entwickelt werden. 2009 wurde der Begriff vom neu gegründeten „Shared Space Instituut“ markenrechtlich geschützt. Planungen, die Gedanken des Shared Space aufgreifen, werden von den Befürwortern als Fortschritt in der Verkehrsplanung aufgefasst. Inwieweit dies gerechtfertigt ist, versuchen die Autoren mit Hilfe einer vergleichenden Analyse bekannter Beispiele zu klären. Der Schwerpunkt dieser vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft herausgegebenen Broschüre liegt dabei auf dem Aspekt der Verkehrssicherheit. Zielgruppe sind Planer und Entscheidungsträger.
Inhalt
Die Beispielsammlung umfasst jeweils zweiseitige Kurzdarstellungen (und Fotos) von drei realisierten niederländischen, drei schweizerischen und vier deutschen Planungen. In Deutschland sind dies die Bremer Straße in Bohmte, der „Stern“ in Brühl, der Roermonder Platz in Kevelaer und der Opernplatz in Duisburg (vormals Landfermannstraße/ Theaterplatz). Aus der Schweiz werden Beispiele aus Köniz, Burgdorf und Biel präsentiert. Danach werden Voraussetzungen zum Einsatz von Shared Space in Deutschland diskutiert, der Ansatz in zehn Leitsätzen charakterisiert und schließlich zusammenfassende Empfehlungen formuliert.
Ein grundsätzliches Ziel von Shared Space stellt das Mischprinzip dar (wenngleich nur ein Teil der vorgestellten Projekte dieses Ziel erfüllt). Daraus erwachsen besondere Probleme für sehbehinderte Personen. Der angestrebte Zustand, bei dem der motorisierte Verkehr in den gemeinsam genutzten Bereichen als „Gast“ auftreten soll, ist in den Fällen mit hoher Verkehrsbelastung nicht erfüllt. Die Ergebnisse in Bezug auf die Unfallentwicklung sind uneinheitlich. Verbesserungen (z.B. in Haren/ NL und Brühl) stehen Verschlechterungen (z.B. bei der unbeschilderten Variante in Bohmte sowie an den Zebrastreifen in Drachten, De Drift/ Torenstraat) gegenüber; in den Schweizer Beispielen sind etwa konstante Verkehrssicherheitsniveaus zu verzeichnen – egal ob Misch- oder (weiches) Trennprinzip. In einigen Beispielen waren die Unfallkosten auch in der Vorher-Situation schon relativ gering, so dass keine deutlichen Effekte mehr aufgetreten sind. Die Folgen für die subjektive Verkehrssicherheit wurden in der Regel nicht untersucht, Ausnahme Bohmte (Abnahme der empfundenen Sicherheit).
Geeignete Bereiche sind aus Sicht der Autoren sensible Abschnitte von Hauptgeschäfts-, Geschäfts- und dörfliche Hauptstraßen mit einem starken Querungsbedarf und einer Kfz-Belastung von grundsätzlich unter 4.000 Kfz/ Tag. Das entspricht dem „Entwurfsgrundsatz“ der Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen RASt 06 zur Anwendung von Mischprinzip (bis 400 Kfz/h). Die Autoren der Broschüre befürworten Einsatzfälle mit höherem Kfz-Aufkommen, wenn eine wissenschaftliche Begleitung erfolgt: Modellvorhaben bis 8.000 Kfz/Tag, bei niedriger Geschwindigkeit auch bis 14.000 Kfz/Tag. Sie fordern die (verkehrsrechtliche) Kennzeichnung und den weitgehenden Ausschluss des Parkens.
Rechtlich können gemischte Flächen in Deutschland innerhalb eines Verkehrsberuhigten Bereichs eingeführt werden, jedoch gemäß Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) seit September 2009 nur bei sehr geringem Verkehr. Daher unterstützen die Autoren eine StVO-Neuregelung mit Einführung einer Begegnungszone nach Schweizer Vorbild (Höchstgeschwindigkeit 20 km/h, keine Spielerlaubnis). Die Ausweisung als „Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ (Tempo 20/10) wird in Verbindung mit eingeschränktem Halteverbot als praktikable Variante gesehen, allerdings mit Nachteilen (kein „Gaststatus“ des Kfz-Verkehrs, der sogar bevorrechtigt ist).
Bewertung
Die Autoren sind keine unkritischen Anhänger des shared-space-Hype, sondern bemühen sich um Versachlichung. Es wird aufgezeigt, dass der Ansatz ein Sammelsurium verschiedener Maßnahmen und keine einheitliche Lösung ist - und straßenräumlich nichts Neues. Neben dem in Deutschland oft mit Shared Space gleichgesetzten Fall der Nichtbeschilderung á la Bohmte werden beschilderte Beispiele vorgestellt. In der Broschüre werden auch Nachteile dargelegt, v.a. für Kinder, Senioren und mobilitätsbehinderte Personen. Die Analyse und Bewertung der straßenverkehrsrechtlichen Lösungen ist teilweise missverständlich. So verwirrt z.B. ein Satz, der so gedeutet werden kann, dass im Verkehrsberuhigten Bereich kein Rechtsfahrgebot gälte. Fragwürdig ist auch die pauschale Aussage, Kinderspiel auf der Fahrbahn sei bei Shared Space „nicht verboten“. Zu wenig thematisiert werden die Konsequenzen der neuen Verwaltungsvorschrift zur StVO vom 1.9.2009: In den von den Autoren als geeignet angesehenen Gebieten wird ein Shared Space mit einer Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmer gar nicht mehr eingeführt werden können, weil die Kfz-Belastungen dort deutlich höher sind als die VwV-StVO für einen Verkehrsberuhigten Bereichs zulässt.
Leider sind die Aussagen zur Verkehrssicherheit in den Texten und Tabellen zum Teil widersprüchlich. Das Plädoyer der Autoren zu Gunsten fundierter Wirkungsanalysen ist positiv zu bewerten. Zu wünschen ist dabei aber ein Bezug auf ein breiteres Spektrum von Wirkungen, zumal Shared Space auch wichtige qualitative Wirkungen zum Ziel hat (wie z.B. bessere Kommunikation und einen partnerschaftlichen Umgang der Verkehrsteilnehmer). Vom gleichen Herausgeber (GDV) wurden einige der Aussagen zu Shared Space in der Reihe Unfallforschung kommunal (Nr. 4, 2009) noch einmal prägnant auf zwei Seiten zusammengefasst.
Titel:
Shared Space. Eine neue Gestaltungsphilosophie für Innenstädte? Beispiele und Empfehlungen für die Praxis. Reihe Unfallforschung der Versicherer. Berlin 2009, 34 S
Verfasser:
Jürgen Gerlach, Jörg Ortlepp, Heiko Voß
Bezug:
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (Hrsg.), kostenlos online: www.udv.de; e-mail:
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2010. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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