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Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 64/2010

Ausgangslage

Die Planung des Fußverkehrs basiert auf relativ einfachen Grundlagen. In der Praxis herrschen angebotsorientierte Ansätze vor, die Verbesserungen zu Gunsten der Fußgängerinnen und Fußgänger z.B. aus Defiziten bei einzelnen Infrastrukturelementen ableiten. Über das Verhalten der Menschen beim Zufußgehen ist wenig bekannt. Die neuen Befragungen im Rahmen der Studien „Mobilität in Deutschland“ bilden den Fußverkehr zwar etwas besser als frühere Erhebungen ab. Insgesamt bestehen aber weiterhin gravierende Defizite bei der Erklärung des erhobenen Verhaltens. Diese Defizite müssten aber behoben werden, soll die Verkehrsplanung adressatengerecht Wirkungen erzeugen. Die Arbeit von Jutta Deffner, die auf einer Doktorarbeit der Autorin basiert, will dazu einen Beitrag leisten. Mit einer Einbettung in sozialökologische Theorien und die Adaption des Ansatzes der Mobilitätsstile greift sie auf neuere theoretische Ansätze der Mobilitätsforschung zurück.

Inhalt

Die Studie diskutiert im ersten Teil die Eignung verschiedener theoretischer Ansätze zur Erklärung des Mobilitätsverhaltens im Bereich des Gehens und Radfahrens: die Ansätze stammen aus der Soziologie (Lebensstile, nutzenorientierte Rational Choice-Modelle), der Psychologie (Sozial-, Umweltpsychologie) und der Geographie (Aktionsraumforschung, Wahrnehmungsgeographie). Sie nimmt eine Konkretisierung des Ansatzes der Mobilitätsstile vor, der anhand einer empirischen Untersuchung in verschiedenen Quartiertypen in Berlin umgesetzt wird. Methodisch bauen diese Arbeiten auf 29 qualitativen (problemzentrierten) Interviews und ergänzenden Befragungen auf (unter anderem einwöchigen Mobilitätstagebüchern sowie Experteninterviews). Die Tiefeninterviews wurden mit Bewohnern von drei Siedlungsstrukturtypen geführt: gründerzeitliche Altbauquartiere, Großwohnsiedlungen sowie Ein- und Zweifamilienhausgebiete.

Aus dem empirischen Material wurden mit Bezug auf die Fuß- und Radverkehrsmobilität mehrere Mobilitätstypen herausgearbeitet. Die gebildeten Typen werden danach unterschieden, ob die Mobilität in starkem Maße den betreffenden Typ prägen, oder ob sich die Mobilität eher als eine Folgewirkung von Anforderungen aus anderen Lebensbereichen darstellt. Zur ersten Gruppe von Typen zählen die „Stadtbegeisterten“, die an „Sicherheit und Vorsicht“ orientierten Personen sowie die Personen mit einer „Fahrzeug-Identifikation“.

Die höchste Affinität für das Zufußgehen haben die „Stadtbegeisterten“: In ihrer Alltagsorganisation ist ihnen die subjektiv empfundene Flexibilität und Ungebundenheit sowie das Bedürfnis nach Stadterlebnis wichtig. Sie nutzen aktiv den Stadtraum und haben eine sehr differenzierte Wahrnehmung des sozialen und physischen Stadtraums. In Bezug auf Verkehrsmittel sind sie multimodal orientiert. Zur nicht-motorisierten Mobilität haben sie positive Einstellungen; dem entspricht ihre intensive Nutzung der Verkehrsmittel. Die untersuchten Personen wohnen überwiegend in den gründerzeitlichen Altbauquartieren.

„Sicherheitsorientierte“ stellen hohe Anforderungen an die subjektive Sicherheit im öffentlichen Raum, an die Verkehrssicherheit sowie an die Planbarkeit eines sicherheitsbezogenen Lebensstils. Für sie spielt z.B. eine Rolle, ob und wie Wege in der Stadt organisiert werden können. Dieser Typ schätzt eine aufgeräumte, saubere „Vorzeigeurbanität“.

Personen mit einer „Fahrzeug-Identifikation“ sind stark auf ein bestimmtes Fahrzeug (Auto oder Fahrrad) fixiert, das zu ihrer Identität beiträgt. Andere Verkehrsmittel werden relativ stark abgelehnt.

Beim Mobilitätsstiltyp „Normalität und Bequemlichkeit“ bestehen keine besonderen Vorlieben oder Abneigungen gegenüber dem nichtmotorisierten Verkehr, Mobilsein und Umfeldbezug sind keine zentralen Themen. Städtische Umgebungen werden aber eher vermieden.

In den beiden Typen „Aktive Bewältigung“ und „Anpassung und Resignation“ prägen finanzielle Restriktionen und teilweise auch körperliche (altersbedingte) Einschränkungen die Mobilitätsorganisation, die beim erstgenannten Typ aktiv, beim zweiten nur reagierend vorgenommen wird. Kennzeichnen sind in beiden Gruppen eine geringe Auto-Verfügbarkeit und ein höherer Anteil älterer Menschen. Die Einstellungen zum Zufußgehen sind neutral.

Den Anforderungen der einzelnen Mobilitätsstiltypen an das städtebauliche Umfeld und das Verkehrssystem wurden typische planerische Ansatzpunkte zugeordnet, die es ermöglichen sollen, die nicht-motorisierte Mobilität bedürfnisgerecht zu fördern.

Für die Stadtbegeisterten haben z.B. die abwechslungsreiche Gestaltung des Nahraums, zügige Verbindungen auf Hauptrouten, ein Fußwegenetz für die Freizeit und eine sehr gute Nahversorgung eine hohe Bedeutung. Für die „Sicherheitsorientierten“ ist die Garantie einer hohen Verkehrssicherheit und die soziale Sicherheit auf dem Fußwegenetz in den Abendstunden relevant. Für Personen des Typs „aktive Bewältigung“ ist ein hoher Standard an intermodalen Schnittstellen (ÖPNV-Zufußgehen) zu gewährleisten. Für den Typ „Anpassung und Resignation“ sollten „idyllische“ Orte vorhanden und eine Belebung des Nahraums garantiert sein. Entsprechend wird vorgeschlagen, stärker als bisher infrastruktur- und servicebezogene Maßnahmen mit einer auf die einzelnen Typen ausgerichteten mobilitätsbezogenen Kommunikation zu stützen.

Bewertung

Wer an einem Überblick über die neuere sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung interessiert ist, findet in der Studie eine gute, knappe Darstellung. Der verfolgte methodische Bezug auf Mobilitätsstile und der qualitative empirische Ansatz tragen viel zum Verständnis des sehr unterschiedlich ausgeprägten Mobilitätsverhaltens bei. Erkennbar wird, dass die Bevölkerung im Hinblick auf das Gehen sehr heterogen ist. Dies macht es unmöglich, mit „Standardlösungen“ alle Personen gleich gut zu erreichen. Die entwickelten Vorschläge in Bezug auf die Planung sind nachvollziehbar. Sie enthalten nicht immer neue Maßnahmen. Diese Maßnahmen werden aber in ein umfassenderes Erklärungsmodell eingeordnet. In ihrer Funktion können sie so gewissermaßen mit anderen Augen gesehen werden. Der Bezug der Studie sowohl auf den Fuß- als auch den Radverkehr ist auf den ersten Blick nahe liegend, frühere Studien und auch diese Studie zeigen aber, dass es sich um zwei recht verschiedene Formen des Mobilitätsverhaltens handelt. Dies hätte es gerechtfertigt, z.B. nur das Zufußgehen genauer zu untersuchen.

 

Titel:

Zu Fuss und mit dem Rad in der Stadt – Mobilitätstypen am Beispiel Berlins. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, V7. Dortmund 2009, 274 S.

Verfasser:

Jutta Deffner

Bezug:

Hrsg: IRPDU, TU Dortmund, Versandbuchhandlung Dorothea Rohn, ISBN 978-3-88211-173-6, 22,50 Euro

 

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, August 2010. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

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