Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 70/2012
Ausgangslage
Die 6. Internationalen Wuppertaler Verkehrstage im Jahr 2010 waren dem Fußverkehr auf der städtischen Ebene gewidmet. Seit Januar 2012 liegt ein Tagungsband mit insgesamt 17 Beiträgen vor. In sieben Kapiteln werden die Entwicklung des Fußverkehrs, Ansätze zur Verbesserung der Situation von Zufußgehenden und Visionen zur zukünftigen Entwicklung dargestellt. Ausführlich behandelte Gruppen stellen Kinder und Jugendliche sowie Senioren dar. Bei den maßnahmenbezogenen Ansätzen liegt ein Schwerpunkt auf Image- und Informationskampagnen. Die Autoren stammen überwiegend aus Deutschland. Zwei englische Experten stellen das Programm „smarter travel choices“ und die Zukunftsstudie „visions 2030“ vor.
Inhalt
Rico Wittwer verweist auf die schwierige Ausgangslage für den Fußverkehr in der Stadtplanung: Eine nahräumliche Erreichbarkeit kann immer weniger garantiert werden. Dies spiegelt sich im Rückgang des Anteils der zu Fuß zurückgelegten Wege: von rund einem Drittel im Jahr 1976 auf ein Viertel im Jahr 2008. In Bezug auf die Straßengestaltung wurden mit der Richtlinie für die Anlage von Straßen im Jahr 2007 zumindest wieder städtebauliche Anforderungen an die Maßstäblichkeit eingeführt, wie sie aus dem gründerzeitlichen Städtebau bekannt sind.
Viele qualitative Anforderungen an die Gehwege müssen allerdings noch erfüllt werden, wie Andreas Schmitz betont. Vor allem die Zielkonflikte, die sich aus einer Führung des Radverkehrs auf Fußverkehrsflächen ergeben, sind aus seiner Sicht unbedingt zu vermeiden.
Ein anderes Problem stellt die starke Zunahme der unselbständigen Mobilität von Kindern und Jugendlichen dar: Der Anteil der im Auto beförderten Schüler (zur „Auto-Schule“) oder der von den Eltern zu Fuß begleiteten Schüler (zur „Begleitungs-Schule“) ist deutlich angestiegen (A. Redecker/B. Frauendienst). Einfluss auf dieses relativ neue Verhaltensmuster hat auch die Lage einer Schule. Obwohl die Schulwegsicherung eine staatliche Aufgabe ist, gibt es nur in vier Bundesländern Regelungen dazu (Bernd Herzog-Schlagk).
Als Beispiel eines Ansatzes, der die subjektive Wahrnehmung und die entwicklungsspezifischen Besonderheiten von Kindern einbezieht und damit ein Gegengewicht zum rein technischen Engineering schafft, erwähnt W. Funk das Netzwerk Verkehrssicheres Nordrhein-Westfalen.
Mit Bezug auf die Mobilität von Senioren stellt H.J. Kaiser einen differenzierten Ansatz vor, der die individuellen, umweltbezogenen und sozialen Bedingungen der Verkehrsbeteiligung berücksichtigt. Er schlägt differenzierte Beratungsangebote für Senioren vor, die neben einer Diagnose der Situation auch eine Aufklärung, Beratung und Unterstützung beinhalten sollen.
Ausführlich wird die in vier Städten im Jahr 2009 umgesetzte Kommunikationskampagne „Kopf an: Motor aus“ dargestellt. Wegen dieser Kampagne gehen 19% der EinwohnerInnen häufiger zu Fuß, wie das Monitoring der Kampagne ergab (O. Reutter). Werner Brög kritisiert diese Kampagne aus methodisch-konzeptioneller Sicht. Er empfiehlt, solche Kampagnen auf differenzierte Analysen von Erwartungen und Erfahrungen der EinwohnerInnen aufzubauen und Vorher-Nachher-Messungen des faktischen Verhaltens vorzunehmen.
Umfangreiche Erfahrungen liegen in Groß-Britannien mit dem Mobilitätsmanagement im Rahmen des Ansatzes „smarter travel choices“ vor, das ebenfalls stark auf Kommunikation basiert (Phil Goodwin). Mit einer konsequenten Umsetzung über mehrere Jahre und Mitteln in Höhe von etwa 12 Euro pro Einwohner und Jahr konnten in Modellgemeinden beträchtliche Zunahmen im Fußverkehr erreicht werden (+9 bis 14% bei den Wegen und +14 bis 33% bei den Distanzen).
Heiner Monheim plädiert für andere, positive Begriffe in der Fachsprache, die den Fußverkehr besser als aktiven und effizienten Verkehr charakterisieren. Für Erhebungen stellt er fünf Regeln auf: unter anderem das Erfassen von allen Etappen zu Fuß, von Bewegungs- und auch von Aufenthaltszeiten im öffentlichen Raum sowie das Beobachten und nicht nur Zählen der Zufußgehenden.
Das laufende Projekt „visions 2030“ definiert Zielzustände für den Fußverkehr und untersucht verschiedene Wege, diese zu erreichen (Miles Tight). Die Defizite herkömmlicher Verkehrsprognosen werden mit dieser Art von Szenarien überwunden. In Bezug auf den Anteil der Fußwege am Gesamtverkehr werden deutliche Steigerungen erwartet: bis 40% gegenüber 28% im Jahr 2006.
Bewertung
Das oftmals schwierige Unterfangen, Tagungsbeiträge in interessante Artikel zu überführen, ist in diesem lesenswerten und ansprechenden Band gelungen. Die einzelnen Themenkomplexe werden in unterschiedlicher Breite behandelt. Das relativ starke Gewicht auf Kommunikationsansätzen ist angesichts der häufig noch recht materiell-technischen Ausrichtung der Fachdiskussion begrüßenswert. Die kontroverse Diskussion der Kampagne „Kopf an: Motor aus“ und die Darstellung der Kampagne „smarter travel choices“ lassen gut erkennen, welche Herausforderungen und potenziellen Chancen derartige Förderansätze darstellen.
Angesichts des Titels hätte man sich noch weitere, auf die zukünftige Entwicklung bezogene Beiträge gewünscht, beispielsweise zu neuen Mobilitätskulturen und zum Verankern des Fußverkehrs in Planungsprozessen. Das vorgestellte Projekt „visions 2030“ ermuntert dazu, eingetretene Pfade der konventionellen Verkehrsprognostik zu verlassen und die Planung vom gewünschten Ziel her aufzuziehen.
Titel:
Zu Fuss in die Stadt der Zukunft.
Verfasser:
Volker Albrecht & Carmen Hass-Klau (Hrsg.)
Bezug:
Kirschbaum Verlag, Bonn, 2012. ISBN 978-3-7812-1824-6, Preis: 29,50 Euro
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2012. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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