Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 92/2017
Ausgangslage
Bei Planungen für den MIV und den öffentlichen Verkehr ist es Standard, das Verkehrsaufkommen zu erfassen und zu prognostizieren. Nicht so beim Fußverkehr. Aufgrund intensiver Forschung ist es beim MIV im Prinzip gut möglich, Kurzzeitzählungen an einem Querschnitt vorzunehmen und die Ergebnisse einfach hochzurechnen. An den dafür notwendigen entsprechenden Hochrechnungsfaktoren fehlt es beim Fußverkehr in der BRD, wenn man dem Verfasser der Studienarbeit, Matthias Roßmerkel, folgt. Das betrifft dann auch die Auswahl der empfehlenswertesten Hochrechnungsmethode. Ohne solche Hochrechnungen müssten für jeden Einzelfall ganztägige Zählungen vorgenommen werden – ein Aufwand, der zumeist von vornherein gescheut wird. Oder der durch „Stellvertretergrößen“ für Fußverkehr wie Gebäude- und Nutzungsstruktur allenfalls sehr grob ersetzbar wird.
Inhalt
Thema sind die „Ganglinien“, also das Verkehrsaufkommen im Verlauf der Tageszeit (oder Jahreszeit etc., was aber nicht Gegenstand der Untersuchung war). Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) hat ein Forschungsprojekt zum Thema sicherheitsrelevantes Fußgängerverhalten in Auftrag gegeben. Im Rahmen dieses Projekts wurden Mitte 2016 werktags Videobeobachtungen an 78 Zählstellen in vier Großstädten angefertigt. Für das Projekt wurde für ausreichend befunden, einen täglichen Zeitraum von nur acht Stunden des Videomaterials auszuwerten. Matthias Roßmerkel hat die Aufnahmen (manuell) weiter ausgewertet und so an 31 Querschnitten in drei Großstädten auch die Zeiträume von 10 bis 15 Uhr und zu einem kleineren Teil (24) auch von 19 bis 20 Uhr statistisch erfasst. Somit verfügte er über Daten von 6 bis 19 oder 20 Uhr. Die Auswahl der Zählstellen war am o.g. Forschungsprojekt orientiert. Autofreie Wege sind darin nicht enthalten, da dort keine Sicherheitsprobleme durch Kfz auftreten. Insgesamt sind rund 100.000 gezählte Fußgänger die Datengrundlage für die Studienarbeit.
In der Studienarbeit wird besprochen, welche anderen, in dieselbe Richtung zielenden Erhebungen es bislang gegeben hat. So z.B. eine Arbeit von Heidemann Anfang der 1960er Jahre. Wegen geänderter Ladenöffnungszeiten, flexibilisierter Arbeitszeiten und der Einrichtung von Fußgängerzonen seien die Ergebnisse für heute nicht mehr verwertbar. Eine neuere (2005) Untersuchung aus der Schweiz – die einzige mit großflächig anwendbaren Hochrechnungsfaktoren - wird für zu wenig vergleichbar mit bundesdeutschen Verhältnissen erklärt, weil in der Schweiz deutlich mehr zu Fuß gegangen werde.
Als interessante Information konnte aus der Schweiz aber die Erkenntnis übernommen werden, dass es im Winter zwar einen Rückgang des Fußverkehrsaufkommens gibt, der modal-split jedoch gleich blieb.
Mobilitätserhebungen wie MiD und SrV wären theoretisch auch für die Bestimmung von Ganglinien verwendbar. Roßmerkel hätten sogar die Daten aus dem „System repräsentativer Verkehrsbefragungen“ (SrV) der TU Dresden zur Verfügung gestanden, doch hielt er sie für weniger zielführend als die Querschnittszählungen. Und zwar wegen sich über den Tag verändernder Untererfassung von Fußwegen, fehlender Erfassung von Etappenlängen und womöglich fehlender Repräsentativität für bestimmte Straßen.
Insgesamt war ein Ergebnis der Untersuchung, dass es beim Fußverkehr nur relativ schwach ausgebildete Spitzen gibt. Beim Kfz sind solche deutlicher. Insbesondere fehlt eine starke Frühspitze, außer an besonderen Örtlichkeiten. Vielmehr gibt es es im Allgemeinen einen kontinuierlichen Anstieg des Fußverkehrs bis zum Mittag und eine Spitze am späten Nachmittag. Nach 18 Uhr kommt es zum Rückgang. In den „Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen“ (EFA 2002) wird zwischen verschiedenen Straßenkategorien – nach Art und Maß der Bebauung – unterschieden. Bei den Kategorien 3 (Wohnstraße, offene Bebauung) und noch mehr bei 5 (Geschlossene Bebauung, mittlere Dichte) sind dann doch Frühspitzen um 9 bzw. 8 Uhr erkennbar. Bei Kategorie 7 (Gemischte Wohn- und Geschäftsnutzung, hohe Dichte) und 9 (Geschäftsstraße) wurden Spitzen gegen 13 Uhr erkennbar.
Ein singuläres Merkmal, welches zu ganz herausragend spezifischen Ganglinien führe, existiere nicht. Nur geballter Einzelhandel habe deutlichen Einfluss.
Im Mittel beträgt der Anteil am Tagesverkehr (6-19 Uhr) zwischen 8 und 9 Uhr gut 6 Prozent, und zwischen 17 und 18 Uhr 11 Prozent.
Nach dieser Datenauswertung geht Roßmerkel dann zum Thema Hochrechnung über. Trotz der ca. 100.000 gezählten Fußgänger hält er die Datenbasis immer noch nicht für groß genug, um „größere relative Fehler“ auszuschließen. Nach der Diskussion verschiedener Methoden und dem Ausschluss von Ausreißern bei den Zählungen kann er dann Hochrechnungsfaktoren präsentieren. Es solle dann eine einzelne Stunde für Zählungen ausgewählt werden, die die geringsten Schwankungen aufweist. Empfohlen wird eine nachmittägliche Stunde, weil dann die auftretende oder zu vermutende Überlagerung verschiedener Wegezwecke Schwankungen am ehesten in Grenzen halten könne.
Der Anhang Nr. 5 der Studienarbeit wird durch eine Daten-CD gebildet, welche alle Zähldaten enthalten soll.
Bewertung
Matthias Roßmerkel erleichtert mit seinen Hochrechnungsfaktoren die Fußverkehrsplanung; es bedarf nur noch einer einstündigen Verkehrszählung, um auf brauchbare Daten hochzurechnen. Es gibt nun noch weniger Ausreden, dies zu unterlassen. Dass ein Teil der Rohdaten (Videos) ursprünglich unausgewertet blieb, deutet ja einmal mehr auf die selektive Ignoranz gegenüber dem Fußverkehr hin. Was nun noch fehlt, wäre eine Evaluation, um die Richtigkeit und allgemeine Verwendbarkeit der Hochrechnungsfaktoren zu überprüfen. Auch der Krit Lit FUSS muss bis dahin einfach an die Korrektheit des Datenmaterials glauben. Über die anfängliche Feststellung hinaus, dass MIV-Aufkommen längst standardmäßig erfasst wird, bliebe die Frage offen, was mit den Fuß-Zahlen anzufangen ist. Da beim Fußverkehr weniger ausgeprägte Aufkommensspitzen als beim MIV festgestellt wurden, wäre die Forderung vertretbar, die Dimensionierung von Fußverkehrsanlagen immer an den Spitzenwerten auszurichten!
Titel:
Ganglinien des Fußverkehrs, Studienarbeit 2017. 75 Seiten, 5 Anhänge, 41 Abbildungen, 10 Tabellen.
Verfasser:
Matthias Roßmerkel, TU Dresden
Bezug:
Bestellung der Arbeit als pdf-Datei beim Autor:
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2017. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Markus Schmidt.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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