Foto: Cody Lannom, Unsplash

Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 95/2018

Ausgangslage

Eine Broschüre speziell für den allgemeinen Fußverkehr (also nicht nur Kinder auf Schulwegen), herausgegeben von einem Landes-Verkehrsministerium, war bis vor einigen Jahren kaum denkbar. Inzwischen hat das nun von den Grünen und der CDU regierte Land Baden-Württemberg immerhin schon zwei Fußverkehrskonferenzen organisiert. Und daneben Fachveranstaltungen zu den Themen Kinder­mobilität, Shared Space-Gedanken und Querungshilfen. Die Broschüre „Fußverkehr - sozial und sicher, Ein Gewinn für alle“ soll ein „Grundlagendokument“ sein.

 

Inhalt

Der Minister für Verkehr in Baden-Württemberg, Winfried Hermann, weist im Vorwort darauf hin, dass vor allem Kinder und Menschen mit Bewegungseinschränkungen einen Nutzen davontragen würden. Und wo dem Fußverkehr eine „angemessene Rolle“ eingeräumt werde, könne auch die Wirtschaft profitieren, seien Wertsteigerungen bei Immobilien zu erwarten.

Nach dem Vorwort beginnt die Broschüre praktisch mit ein paar Zahlen aus der Unfallstatistik. Weitere Probleme werden benannt und ein Umfrageergebnis erwähnt, wonach 90 Prozent der Befragten Im Land sich wünschen, dass sich Schulkinder „ohne ihre Eltern frei im Straßenverkehr bewegen können sollten“. Zusammen mit dem Hinweis auf den Koalitionsvertrag, in dem auch der Fußverkehr erwähnt ist, soll hier vermutlich die Legitimationsgrundlage für die Broschüre benannt werden. Denn, so die Einschätzung des Herausgebers und der Redaktion (Planersocietät Dortmund), „die meisten“ „arrangieren“ sich mit den Verhältnissen. Es werden Befragungsergebnisse erwähnt, aus denen hervorgehe, dass der Fußverkehrsanteil von „wichtigen Akteursgruppen“ unterschätzt werde.

In einem umfangreichen Teil werden „Wissensbausteine“ mit Zahlen, Fakten und Argumenten zum Fußverkehr wirklich zahlreich unterfüttert. Daraus soll für den KritLit das aus anderer Quelle widergegebene Umfrageergebnis hervorgehoben werden, wonach 46 % der Menschen Lärm, Geschwindigkeit und Vorfahrtverletzungen durch Kfz als „sehr störend“ beim Gehen empfinden. Beim Blick in die Quellenangaben entpuppt sich das als eine Zahl aus Wien. Diverse andere Umfrageergebnisse spiegeln satte Mehrheiten zugunsten des Fußverkehrs wider.

Diese Ergebnisse werden im Kapitel „Chance für eine bürgernahe Politik“ noch einmal wiederholt. Auch die Fußverkehrs-Checks sind sehr positiv dargestellt: Im Schnitt werde elfmal in Zeitungen oder im Internet darüber berichtet, teils auch im Radio und Fernsehen.

Ein großes Kapitel widmet sich dem „Engagement des Landes für den Fußverkehr“. Ziel sei die Erhöhung des Fußverkehrsanteils von 23 % (2017) auf 30 Prozent aller Wege im Jahr 2030. Das Land wolle zu diesem Zweck die Kommunen unterstützen. Und zwar in vier Handlungsfeldern:

  • Landesweite Maßnahmen und Modellprojekte (hierzu seien in 33 Kommunen im Land Fußverkehrs-Checks durchgeführt worden).
  • Aufbau und Unterstützung von Netzwerkstrukturen (eine Arbeitsgruppe zum Fußverkehr sei aus Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen in B.W. gebildet und die Broschüre von einem Expertengremium erstellt worden, was ein Schritt zu Netzwerken sei).
  • Information und Service für die Kommunen (Fachkonferenzen und vertiefende Fachseminare sowie Leitfäden z.B. zu den Themen Zebrastreifen oder Ortsdurchfahrten).
  • Optimierung des rechtlichen und finanziellen Rahmens (Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz seit 2015 mit Fußverkehrsmaßnahmen; die Landesregierung setze sich auf Bundesebene für eine fußverkehrsfreundlichere StVO ein).

Außerdem wird darauf verwiesen, dass das Land mit einem Verkehrssicherheitskonzept (incl. „vision zero“) auch Fußverkehrsförderung betreibe – freilich ohne zu erwähnen, ob dann mehr oder weniger gegangen wird.

Im Kapitel „Gute Beispiele“ werden ebensolche anschaulich benannt – bis hin zu „netten Toiletten“ in Aalen.

Bewertung

Nach der Lektüre drängt sich die Frage auf, wie jemals jemand auf die Idee kommen oder es wagen konnte, nicht fußverkehrsfreundlich zu planen. Die Widerstände und deren Überwindung sind fast kein Thema (in Freiburg kommen verkehrsberuhigte Bereiche nur bei max. 150 Kfz/h in Frage). Die Bebilderung geht sparsam mit konkurrierendem Verkehr um. Wundersamerweise bleibt der Fahrradverkehr praktisch unerwähnt, obwohl z.B. zuletzt der ADAC in einer großen Umfrage (siehe mobilogisch 1/18) herausgefunden haben will, dass sich zu Fuß Gehende am meisten über Radfahrende ärgern.

Es gehört vermutlich zum Konzept dieser Publikation, so etwas eher auszublenden. Und das kann auch gut sein. „Gehen ist ein so normaler Teil des täglichen Lebens, dass eine besondere Befassung mit dem Thema kaum nötig erscheint“, ist in der Einleitung zu lesen. Obwohl optisch ansprechend gemacht, wird sich ein Herausgeber einer solchen Broschüre schon glücklich schätzen können, wenn diese (zunächst) wenigstens in ein paar Dutzend Rathäusern durchgeblättert wird Und wenn der Bund der Steuerzahler nicht meckert. Also muss man sich auch nicht von teils seltsam anmutenden negativen oder übertrieben positiven Umfrageergebnissen irritieren lassen.

Dann ist diese Publikation als sehr gelungen bewertbar. Die vorgestellten Beispiele liefern gutes Anschauungsmaterial. Zum Beispiel glatt geschliffenes historisches Pflaster in Freiburg - zugunsten des Nutzungskomforts.

Dass im Ländle der Fußverkehrsanteil um 7 % gesteigert werden soll, erscheint vergleichsweise mutig, wird doch anderswo allenfalls mit Stagnation gerechnet, weil bei gleichzeitigen Fördermaßnahmen beim Radverkehr Wachstum eher bei diesem stattfindet. Zumal wenn das Land die Kommunen lediglich „unterstützen“ möchte, es also nicht selbst in der Hand hat.

Die Information, dass sich die Landesregierung für eine fußverkehrsfreundlichere StVO einsetze, wird nicht konkretisiert, ist nicht mit einem Verweis oder einer Quelle hinterlegt.

Titel:

Fußverkehr – sozial und sicher, Ein Gewinn für alle; erschienen im September 2017, 52 Seiten, zahlreiche Bilder, Grafiken.

Verfasser:

Herausgeber: Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg

Bezug:

Dorotheenstraße 8, 70173 Stuttgart www.vm.baden-wuerttemberg.de

 

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, August 2018. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Markus Schmidt.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.