Foto: Cody Lannom, Unsplash

Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 109/2021

Ausgangslage

Vor zehn Jahren veröffentlichte Berlin die erste Fußverkehrsstrategie (FVS) einer deutschen Stadt. In 2021 folgt Leipzigs FVS. Beauftragt vom Verkehrs- und Tiefbauamt der Stadt entwickelte das Planungbüro IKS aus Kassel gemeinsam mit Vertretern der Stadt, des Runden Tischs Fußverkehr und der AG Fußverkehrsförderungen die FVS, die geplant bis spätestens 2022 in Kraft treten soll.

Inhalt

Aufbauend auf den Zielen und Leitlinien des Integrierten Stadtentwicklungskonzepts (INSEK) Leipzig 2030 plant Leipzig systematisch, also ganzheitlich und effizient, die Fußverkehrsmobilität fördern – für alle Leipziger. Wie in einer Sinfonie sollen dafür verschiedenste Programme und Instrumente ineinandergreifen, in einem sogenannten „strategischen Dreiklang“. Dabei stellt die die „Ouvertüre“ (die FVS) den ersten Teil dar. Sie dient als langfristige Vision. Dieser folgt der „Hauptsatz“, der Fußverkehrsentwicklungsplan (FußVEP), der die gesamtstädtischen Entwicklung des Fußverkehrs betrachtet. Er sieht die Erstellung eines Bedeutungsplans vor und die Festlegung von Prioritäten und Maßnahmen für die erste Arbeitsperiode. Parallel zu entwickeln ist der dritte Teil, bestehend aus sogenannten „Sonaten“ – Fußverkehrskonzepten auf Stadtteilebene mit konkreten Maßnahmen.

Die Idee der FVS ist nicht neu: Ähnliche Inhalte finden sich bereits in etlichen Planungsdokumenten: Vom INSEK 2015 über die Umweltqualitätsziele (2003) zurück bis zum Konzept für Fußgängerverkehr aus dem 1997 (vor 35 Jahren!) – in Planung sind die Verbesserungen für zu Fuß Gehende schon lange.

Aufbauend auf allen Grundlagen entwickelten die Autoren die Leitbilder und Ziele der neuen FVS. Dabei spiegeln die Leitbilder das Selbstverständnis der FVS in Form von Forderungen zum Beispiel: „Alle Menschen in Leipzig sollen sich sicher, bequem, ohne Angst und ohne Hindernisse im öffentlichen Raum bewegen können“. Insgesamt orientieren sich diese Leitlinien an dem Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“. Dreizehn Ziele betreffen unter anderem Stabilisierung des Fußverkehrs im Modal Split; Schaffung barrierefreier öffentlicher Räume, wo sich Fußverkehr angst- und konfliktfrei bewegen kann; gerechte Aufteilung des öffentlichen Raums mit hoher Qualität; Kinder- und Familiengerechtigkeit; die Entwicklung belebter, urbaner Quartiere mit Qualität; hoher Nutzungsmischung und Dichte; Stärkung des Raums als öffentliches Gemeingut und soziale Allmende; Reduzierung der Unfallgefahren für Fußgänger; verbesserte Verknüpfung und Zugänglichkeit zu ÖPNV und Sharing-Angeboten; Gleichstellung des Fußverkehrs mit Auto- und Radverkehr in Hinblick auf personelle / finanzielle Ressourcen und eine Umsetzung der Ziele durch kontinuierliche und transparente Beteiligungsverfahren. An die Ziele schließt sich die Vorstellung der zur Umsetzung relevanten strategischen Akteure an.

Die Strategie enthält auch Handlungsfelder zur Umsetzung der Leitbilder und Ziele mit Hilfe verschiedener Instrumente. Das erste, „Identifikation von Fußwegnetzen“, ist eine Analyse der Fußverkehrsnetze: Einerseits allgemein in Hinblick auf baulichen Zustand, Lücken etc. Andererseits werden speziell die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzergruppen berücksichtigt, z.B. Touristen oder Schulkinder. Es folgen die Instrumente „Anforderungen an die Infrastruktur und Vorgaben der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswegen (FGSV)“ und „Etablierung einer neuen Mobilitätskultur“. Mit letzterem gemeint ist die Vermarktung des Zufußgehens als Experience, ähnlich wie es Autohersteller für ihre Fahrzeuge bereits tun, inzwischen auch Städte wie Zürich für ihre Fußgänger. „Evaluation, Monitoring und Grundlagen“ heißt das letzte Instrument, zu dem u.a. Fußgängerzählungen und Wirkungsanalysen gehören.

Das Umsetzungskapitel unterscheidet Maßnahmenprogramme nach Priorität, Dauer und finanzieller Grundlage sowie vorrangig wünschenswerte Modell- und Pilotprojekte. Dazu gehören Zebrastreifen-, Aufwertungs-, Gehwegsanierungs-, Stadtplatz-, Flaniermeilen- und Lückenschlussprogramm sowie das Programm Fußgängerfreundliche Ampelschaltungen und weitere Modellprojekte.

Bewertung

Die FVS definiert klar ihre Ziele und baut logisch auf umfassenden Grundlagen und Argumenten für den Fußverkehr auf. Das musikalische Thema macht sie ansprechend und einzigartig.

Einige Formulierungen irritieren jedoch: Ist „die politische Wertschätzung des Gehens“ ein Leitbild oder eine zu erwartende Selbstverständlichkeit? Gehören „ergänzende Angebote öffentlicher Verkehrsmittel und Fahrrad-Sharingsysteme“ in ein Leitbild für Fußgänger?

Stellenweise wäre ein stärkerer Fokus wünschenswert, zum Beispiel: Warum wurde nicht das bereits existierenden Leitbild „Stadt der kurzen Wege“ aufgegriffen und für Leipzig präzisiert (ähnlich der 15-Minuten-Stadt in Paris oder den Superblocks in Barcelona)?

In Hinblick auf die Ziele ist einiges unklar, etwa die Gewichtung: Spielt die Reihenfolge eine Rolle? Auch inhaltlich machen manche Formulierungen stutzig, z. B. Warum soll der Anteil des Fußverkehrs lediglich „stabilisiert“ statt erhöht werden? Warum umfasst Bürgerbeteiligung im Prinzip nur den Status Quo? Welche Ziele setzt sich Leipzig im Hinblick auf Digitalisierung?

Obwohl die Thematik angesprochen wird, fehlt zudem eine eingehende Strategie, wie Planungskonflikte gelöst werden. Wie sonst soll sich die FVS z.B. gegen Konzepte wie der „fahrrad- bzw. autogerechten“ Stadt behaupten?

Insgesamt ergibt sich für mich die Frage: Ist die FVS gegenüber der nächsten Generation moralisch vertretbar? Nein, nicht in dieser Form. Zwar ist sie mit Sicherheit aus Sicht erfahrener Planer eine anzuerkennende und wertzuschätzende Leistung. Doch aus heutiger Perspektive wird mit einer Zusammenfassung bestehender Konzepte keine Mobilitätswende zu erreichen sein.

Nötig hierfür wäre u.a. ein überarbeitetes Konzept zur Einbindung aller Leipziger, wesentlich über die übliche Scheinbeteiligung hinaus. Es braucht auch eine überzeugende Strategie zur Nutzung neuer Technologien zum Wohl der zu Fuß Gehenden. Erfolg versprechen könnte die Verstärkung des Instruments „Schaffung einer neuen Mobilitätskultur“. - Aus heutiger Sicht kann und muss trotz aller Kritik gesagt werden: Die FVS Leipzig wird ein Fort-Schritt sein.

Titel:

Fußverkehrsstrategie „Die Ouvertüre“

Verfasser:

Stadt Leipzig (Hrsg.); IKS – Ingenieurbüro für Stadt- und Mobilitätsplanung mit dem Runden Tisch Fußverkehr und AG Fußverkehrsförderung Leipzig

Bezug:

Kostenloses PDF auf der Website der Stadt Leipzig: www.leipzig.de → Umwelt und Verkehr → Verkehrsplanung → Fußverkehr → Fußverkehrsstrategie

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2021. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Gordon Jamerson.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.