Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 112/2022
Ausgangslage
Die Gestaltung von Straßen, Wegen und Plätzen entscheidet darüber, ob Zufußgehende ein qualitativ hochwertiges Erlebnis haben, oder Fußverkehr als notwendiges Fortbewegungsmittel angesehen wird.
Landschaftsarchitekt Simon Schöni sagte: „Ein Platz ist nur so stark wie sein Ränder“. Die Gestaltung des Straßenraums beinhaltet mehr, als die Planung von Verkehrsregelung und Infrastruktur. Um hochwertige und ansprechende Räume zu kreieren, muss über die Ränder der Fahrbahn, von Fassade zu Fassade gestaltet werden. Dabei verwischen oft die Grenzen zwischen dem privaten Raum der Grundbesitzer*innen und dem öffentlichem Straßenraum. Dies zwingt Stadtplaner*innen und anliegende Grundbesitzer*innen an den Verhandlungstisch. Die Publikation von Fussverkehr Schweiz möchte dabei von erfolgreichen Verhandlungen berichten und partizipative Methoden und Verhandlungsstrategien vermitteln.
Inhalt
Im ersten Teil werden die zentralen Qualitätsmerkmale sowie Gestaltungsgrundsätze von öffentlichen Räumen und Straßenräumen zu Fuß geklärt. Straßen sind öffentlicher Raum, die Zugänglichkeit muss dementsprechend für alle gewährleistet werden. Ausschlaggebend für die Gestaltung und die Qualität des Straßenraums ist der Verkehr. Wird beispielsweise Fußverkehr gefördert und barrierefrei, hindernisfrei und sicher gestaltet, kann das die Aufenthalts- und Gehqualität stark verbessern. Merkmale des Komforts ziehen Menschen an, den öffentlichen Raum stärker zu nutzen.
Der Straßenraum wird hier so definiert, dass er dabei alles, also die Fahrbahn, Gehwege Hausfassaden sowie private aber zugängliche Grundstücke (bebaut oder unbebaut), umfasst. In der Wahrnehmung spielen alle diese Faktoren eine Rolle und sollten bei der Gestaltung berücksichtigt und integriert geplant werden.
Wichtig ist außerdem die Betrachtung von Planung als Prozess. Projekte sollten fortlaufend im Dialog mit den Akteur*innen begleitet werden. Dabei empfiehlt Fussverkehr Schweiz ein iteratives Vorgehen. Die Entwicklung soll regelmäßig überprüft, und Maßnahmen und Ziele flexibel darauf angepasst werden. Je großzügiger das Zeitfenster, umso besser kann auf unvorhergesehene Entwicklungen eingegangen werden.
Die Vermittlung zwischen den involvierten Akteuren (privat, öffentlich, zivilgesellschaftlich) erfordert Verhandlungsgeschick und Einfühlungsvermögen. Im Hauptteil werden anhand von sieben Fallbeispielen in verschiedenen Städten gezeigt, wie Verhandlungen ablaufen können und was es jeweils zu beachten gilt.
Die beschriebenen Projekte hatten dabei unterschiedliche Konzepte und Ziele. In einigen Fällen gab es Neugestaltungen von Fassade zu Fassade und Verkehrsberuhigung von Durchfahrtsstraßen, Ortszentren oder zuvor unattraktivem Straßenraum. Anderenorts wurden mit Stadtentwicklungsplänen neue urbanen Identitäten nach Abzug der Industrie erschaffen. In einem Fall wollte man mit Nutzungsplänen Einfluss nehmen auf die Ausbreitung von für den Straßenraum und Fußverkehr attraktiven Gewerbe auf Gehwegebene.
Die zur Partizipation eingesetzten Methoden reichten von Kommunikation der Ziele mit der Bevölkerung, über spezielle Mediator*innen und „Kümmerer“ bis hin zu Projektbegleitenden Gremien mit Vertreter*innen der verschiedenen Nutzergruppen.
In fast allen Beispielen hatten Grundbesitzer*innen zunächst stark variierende Bereitschaft, mit der Planung zu kooperieren, bzw. nicht mit dem Maßnahmenpaket zu vereinbarende Vorstellungen. Befragungen der Anwohner*innen und Begleitgruppen mit privaten Akteur*innen waren meist eine der ersten umgesetzten Maßnahmen. In einigen Beispielen machten private Akteur*innen starke Eingeständnisse und halfen bei der Umsetzung von Konzepten auf ihrem eigenen Grund. Im Gegenzug konnten sie Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes um sie herum nehmen und erhielten durch die erhöhte Attraktivität des angrenzenden Gebiets einen Mehrwert und Standortvorteile für sich. Hier wurde in den meisten Fällen nach gemeinsamen Zielen und Win-Win-Situationen gesucht.
Bewertung
Der Bericht macht deutlich, wie wichtig gute Partizipation und Kommunikation von Beginn an bei der Planung von Verkehr und der Gestaltung des Straßenraums ist. Die Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie durch die Vermischung der Grenzen zwischen privatem und öffentlichen Raum neue Möglichkeiten entstehen. Einige der Räume konnten nur durch bereitwillige Zusammenarbeit mit Privaten Grundbesitzer*innen entstehen. Dabei wird auch verständlich, dass dies nicht der Regelfall ist und einiges an Arbeitsmehraufwand und vor allem Zeit erfordert.
Die Gestaltung des Straßenraums von Fassade zu Fassade hilft, auch unquantifizierbare Ansprüche an den Straßenraum, wie Identifikation, soziale Brauchbarkeit oder Orientierung zu verbessern. In den genannten Beispielen war dies oft ein notwendiger Schritt zur Akzeptanz durch die Bevölkerung und somit unabdingbar für eine erfolgreiche Umsetzung der Projekte.
Neben den Stärken werden auch die Risiken und Fehler bei Partizipativer Planung beschrieben und analysiert um anschließend Verbesserungsvorschläge zu machen. Alle Beispiele werden von zahlreichen Fotos und Bildern auch visuell gut begleitet, wodurch man sich schnell ein Bild der umgesetzten Maßnahmen machen kann. Insgesamt zeichnet sich durch die Beschreibung der Städte ein guter Erfahrungsbericht ab, von dem man Ideen und Warnungen für zukünftige Projekte mitnehmen kann.
Zu kritisieren ist, dass zu selten konkrete Verhandlungsstrategien genannt werden. Häufig wird nur geklärt, welche Maßnahmen in Zusammenarbeit mit privaten Akteuren umgesetzt wurden. Wie diese im Lauf der Zeit überzeugt wurden, wird aber ausgelassen.
Etwas schwächer fallen inhaltlich die Einleitung und der Schluss aus. Die Grundsätze und Qualitätsmerkmale wirken etwas oberflächlich und unsortiert, geben aber eine vernünftige fachliche Einleitung, um die Beispiele besser nachvollziehen zu können. Das letzte Kapitel dient kaum als Zusammenfassung. Ohne Erläuterung und Kontext werden die für die Beispiele relevante Katalysatoren als Schlagworte aufgezählt, bieten so aber wenig Informationsgehalt und können auch nicht mehr den Beispielen zugeordnet werden. Wer sich für eigene Konzepte inspirieren will, muss also vor allem den Hauptteil lesen.
Titel:
Fussverkehr und öffentlicher Raum – Wie private und öffentliche Übergänge gelingen, Bern/ Zürich November 2021, 69 Seiten
Verfasser:
Bundesamt für Strassen ASTRA (Hrsg.); Jenny Leuba, Monika Litscher, Marion Ronca, Sarah Widmer
Bezug:
Kostenloser Download auf www.fussverkehr.ch → Publikationen → Studien und Berichte → Fussverkehr und öffentlicher Raum
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, August 2022. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Julian Thiesen.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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