Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 118/2024
Ausgangslage
Während und nach der Corona-Zeit wurde ein Mittel des „tactical urbanism“ in manchen Städten populär: Provisorisch und mit dem Versprechen, dass die Umgestaltung des öffentlichen Raums nur zeitweise geschehen solle, wurden in Deutschland überwiegend provisorische Radverkehrsanlagen (z.B. „Pop-up-Radwege“) angelegt. Hauptgrund waren die Abstandsregeln und die Argumentation, dass in Pandemie-Zeiten das Nutzen von Bus und Bahn nicht zumutbar war. Adäquate Maßnahmen wie etwa Gehwegverbreiterungen wurden beim Fußverkehr nicht ergriffen. - Die temporären „Sommerstraßen“ in München waren schon eher als Klimaanpassungsmaßnahmen angelegt. Dies war auch eine Motivation bei den u.a. schweizer Projekten.
In der Schweiz hat nun Fussverkehr Schweiz in Städten temporäre Umgestaltungen von Änderungen untersucht, die den Fußverkehr und den Aufenthalt im öffentlichen Raum testweise attraktiver machen sollten.
Inhalt
Voraussetzung für die Akzeptanz von temporären Maßnahmen sind partizipative Prozesse, mit denen gezielt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen und das soziale Miteinander angeregt werden kann. Die Umnutzung des öffentlichen Raums im Rahmen solcher Projekte lädt die Bevölkerung ein, sich ihre Wohnquartiere anzueignen und mitzugestalten. Es zeigt sich zudem, dass solche temporären, von der Bevölkerung mitentwickelte Projekte weniger anfällig bezüglich Widerstand und Opposition sind. Grund: Anwohnende verfügen über lokales Knowhow und wissen meistens genau, wo der Schuh drückt. Zudem wird ein gemeinsam gestalteter Raum von ihnen gepflegt bzw. pfleglich behandelt, wenn man weiß, dass die Nachbar:innen selbst dabei engagiert sind.
Die Schweiz hat einen großen Schatz an Erfahrungen mit Begegnungszonen, die dort überwiegend gut akzeptiert werden. Um zu sehen, wie dieses Konzept noch besser umgesetzt werden kann, hatte Fussverkehr Schweiz im Sommer 2022 in Zusammenarbeit mit dem Dachverband für Offene Kinder- und Jugendarbeit das Pilotprojekt „Begegnen, Bewegen, Beleben in Quartieren von Bern und Zürich“ durchgeführt. Dabei wurden mit Anwohner:innen Begegnungszonen in Straßen temporär mit Möbeln, Bemalung und Pflanzen ausgestattet.
Die Quartiersbewohnerinnen und -bewohner konnten stets ihre Meinung zum Projekt einfließen lassen und wurden mehrfach dazu befragt. Während der Testphase wurden deutlich mehr Interaktionen im öffentlichen Raum festgestellt – die Leute begegneten sich vermehrt, konnten sich in der umgestalteten Zone ungestört und einfach bewegen und die Quartiere wurden belebt.
Anfangs gab es Befürchtungen seitens der Bevölkerung, dass die Umgestaltung zu mehr Lärm und Parties führen würde. Das war aber nicht der Fall. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung zeigte, dass das Projekt von vielen Personen begrüßt wurde und die Rückmeldungen aus dem Quartier überwiegend positiv waren. Während der Testphase wurden deutlich mehr Interaktionen im öffentlichen Raum festgestellt – die Leute begegneten sich vermehrt, konnten sich in der umgestalteten Zone ungestört und einfach bewegen und die Quartiere wurden belebt.
In Biel wurden erfolgreich in 2019 spezielle Änderungen für die Sommernutzung durchgeführt, die 2022 mit modifizierten Interventionen wiederholt und parallel die Elemente eines inzwischen entwickelten Vorprojekts zur Umgestaltung zur Diskussion gestellt. Um zu erfahren, wie die Leute darauf reagieren, wurden Befragungen und Workshop-Spaziergänge durchgeführt. Die Bilanz der Stadtbehörden ist bislang positiv. Die temporären Umgestaltungen werden von der Bevölkerung geschätzt und machen die Vorgaben für ein zukünftiges Projekt fassbarer. Dank der Alltagserfahrungen weisen die Benutzer:innen und Benutzer immer wieder auf relevante Aspekte hin. Dies ist umso befriedigender als der partizipative Prozess erhebliche personelle Mittel bindet.
Bewertung
Unklar ist, inwieweit man die Erfahrungen und Ergebnisse aus der Schweiz auf deutsche Verhältnisse übertragen kann. In Deutschland gibt es immer noch nicht die Verkehrsregelung Begegnungszone – die Verhältnisse in Verkehrsberuhigten Straßen sind doch deutlich andere.
Unklar blieb, welche sozio-ökonomische Faktoren die Zusammensetzung der anwohnenden Bevölkerung bestimmten: War es nur gutsituierte Mittelschicht oder auch Menschen, die auch ansonsten sich schlecht Gehör verschaffen können?
Bei den partizipativen Projekten zur Verbesserung des Konzepts Begegnungszonen wurden ausschließlich reine Wohnstraßen untersucht. Interessant wäre natürlich auch gewesen, wie man Fußverkehr und Aufenthalt in Begegnungszonen im Einflussbereich von Schulen, auf Bahnhofplätzen und an belebten Einkaufsstraßen partizipativ attraktiver gestalten kann. Das Argument für die reine Konzentration auf Wohnstraßen lautet nachvollziehbar: Insbesondere in den Wohnquartieren findet in der Realität trotz Verkehrsberuhigung noch zu wenig Aneignung statt. Es besteht also weiterer Forschungsbedarf!
Titel:
Temporäre Gestaltungen – Neue Wege die Stadt zu Fuß zu entdecken. Materialien Langsamverkehr Nr. 163; Hg.: Bundesamt für Strassen, Bern, Juni 2023, 44 Seiten.
Verfasser:
Fussverkehr Schweiz: Flore Maret, Jenny Leuba, Pascal Regli.
Bezug:
Download unter fussverkehr.ch → Publikationen → Studien und Berichte. Die Publikation ist auch in französischer und italienischer Sprache erhältlich. In der mobilogisch-Ausgabe 3/23 berichteten wir ab S. 16 über die einzelnen Projekte der Studie.
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2024. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Stefan Lieb.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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