Rezension aus der MobiLogisch - Zeitschrift für eine nachhaltig bewegte Welt, Ausgabe 119/2024
Ausgangslage
Die Idee des Superblocks stammt aus Barcelona und ist auch bei uns seit einigen Jahren populär. Während in der katalanischen Hauptstadt Standards für Superblocks fixiert sind, gibt es hierzulande noch keine offiziellen Anleitungen für die Umsetzung. So hat die Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) zum Thema keine Empfehlungen formuliert. Das wird sie wohl auch nie tun, da ihre Herangehensweise anders strukturiert ist (eher definierte Straßentypen, keine städtebaulichen Empfehlungen). Auch eine Übernahme der Verkehrsregeln in Superblocks in die StVO ist sehr unwahrscheinlich.
Diese Lücke hat Changing Cities genutzt, um eine eigene Empfehlung zu formulieren. Anfang 2023 wurde der Vorgänger des aktuellen Werkes veröffentlicht und „Richtlinie für die Anlage von Kiezblocks RAKi 2023“ genannt. Im Herbst wurde etwas zurückgerudert und klarer formuliert: Aus Richtlinie wurde Empfehlung und aus dem Berliner Begriff Kiezblock wurde der international gebräuchliche Superblock. Der auf der Website formulierte Anspruch, mit der ESu 2023 „Richtlinien für niedrigschwellige Maßnahmen zur nachhaltigen Stadtentwicklung“ für Kommunen erarbeitet zu haben, bleibt bestehen.
Zusätzlich geplant sind ergänzende Hinweise für Bürgerbeteiligungen und Empfehlungen für verkehrsberuhigte Bereiche und Geschwindigkeitsbegrenzungen unterhalb von 30 km/h. Die Inhalte der ESu 2023 sind unter der Creative Commons Lizenz (CC BY-ND 4.0) auch für kommerzielle Zwecke frei nutzbar. Das von Changing Cities formulierte Ziel lautet „mittelfristig von zuständigen Behörden als technisches Regelwerk der 2. Kategorie (‚R2‘) anerkannt zu werden“.
Inhalt
Leitgedanke ist das Stichwort „induzierte Nachfrage“, also die Erkenntnis, wer Autostraßen sät, wird Autoverkehr ernten. Das gilt auch für den Fuß- und Radverkehr, so die Autor:innen.
Im Anschluss an die erläuterten Verkehrswissenschaftlichen Grundlagen werden drei Stufen von Standards gesetzt. Die Erläuterungen der Standards und der jeweiligen Maßnahmen nehmen rund die Hälfte der ESu 2023 ein:
- Der Mindeststandard soll für eine schnelle und möglichst flächendeckende Umsetzung angewendet und kann als „Superblock light” verstanden werden.
- Der Regelstandard soll nach Erreichen des Mindeststandards planerisch angegangen werden.
- Der Goldstandard ist langfristig anzuwenden. Der damit verbundene höhere Aufwand darf jedoch nicht zu Lasten der flächendeckenden Umsetzung nach Mindest- und Regelstandard gehen.
Projekte, die die Anforderungen des Mindest- und Regelstandards unterschreiten, werden als unwirksam eingeschätzt und sollten nicht als Superblock oder Kiezblock bezeichnet werden.
Beim Mindeststandard werden modale Filter und ihre unterschiedlichen Wirkungen vorgestellt. Neben den bekannten diagonal oder quer aufgestellten Pollerreihen gehören die Umnutzung von Straßenabschnitten und schmale Einbahnstraßen dazu.
Anschließend werden die Routenführungen und -qualitäten für den Kfz-, Rad- und Fußverkehr diskutiert. Bei letzterem geht es auch um die Zuwege zum Öffentlichen Nahverkehr und die Qualität der Haltestellen. Schließlich werden noch Bürger-Information & Evaluation sowie die Rechtsgrundlagen betrachtet.
Beim Regelstandard werden zusätzlich die Infrastruktur und ihre Aufteilung im öffentlichen Straßenraum beschrieben. Wobei es nicht nur um die jeweiligen Verkehrsräume, sondern auch um die blau-grüne Infrastruktur (Wasser, Bepflanzung) und die Aufenthaltsqualität geht. Hier wird anschließend der Auflösung von Konflikten innerhalb des Umweltverbundes ein eigenes Kapitel mit sechs Maßnahmenfeldern eingeräumt.
Im Bereich Goldstandard werden die nötigen Maßnahmen für die dem Superblock anliegenden Hauptverkehrsstraßen aufgeführt, damit diese „verträglich“ werden. Zudem soll die Aufenthaltsqualität durch Verbesserungen der Infrastruktur gegenüber dem Regelstandard nochmals verbessert werden. Dazu gehört auch, dass „das dauerhafte Abstellen von privaten Kraftfahrzeugen auf öffentlichen Straßen des Superblocks nach Goldstandard nicht zulässig“ ist. Schließlich werden im Rahmen der städtebaulichen Entwicklung „mit dem Ziel der kleinräumigen Nutzungsmischung im Sinne einer Stadt der kurzen Wege“ lokales Wirtschaften gefördert und kommunale Infrastruktur wie Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen entwickelt.
Bewertung
Die ESu bieten einen guten Überblick über (im Ausland) erprobte Kfz-verkehrsberuhigende und Umweltverbund-fördernde Maßnahmen. Vielleicht hätten mehr Hinweise darauf, welche der geforderten Maßnahmen bereits im Anwendungskatalog der FGSV aufgeführt sind, der ESu noch mehr „Seriosität“ verliehen.
Über die Entscheidung, die Konflikte und deren Lösungsmöglichkeiten zwischen Fuß und Radverkehr erst im Regelstandard anzugehen, lässt sich trefflich streiten. Die Konflikte wie jetzt erst im zweiten Schritt anzusprechen, könnte Frust und damit Zweifel am Sinn des Ganzen bei Fußgänger:innen auslösen. Zumindest ein Signal „Wir haben Eure Probleme erkannt“ sollte auch zu Beginn möglich sein.
Ob Kommunen diese Empfehlungen eines zivilgesellschaftlichen Interessenverbandes als technisches Regelwerk anerkennen wollen, dürfen oder können, ist eine interessante Frage. Ich kann sie nicht beantworten.
Titel
Empfehlungen für Superblocks ESu 2023, Hg.: Changing Cities, November 2023, 24 Seiten
Verfasser
Fachgruppe Standards für die Mobilitätswende (FGSM) von Changing Cities
Bezug
Impressum:
Erstveröffentlichung in der MobiLogisch - Zeitschrift für eine nachhaltig bewegte Welt, Mai 2024. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der MobiLogisch.
Autor dieser Ausgabe: Stefan Lieb.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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