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Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 96/2018

Ausgangslage

Die Situation wird im dritten Kapitel prägnant wiedergegeben: Die Datenlage zum Fußverkehr ist unzureichend, viele Stadträume sind für das Zufußgehen unattraktiv, in vielen Städten ist eine barrierefreie Mobilität noch Zukunftsmusik, Zufußgehende sind in den Städten besonders gefährdet, Fußverkehr wird im Vergleich zum Autoverkehr vernachlässigt und er wird zu wenig erforscht und gefördert. Nicht zuletzt aber, und das ist der „rote Faden“ dieser Schrift, wird der Fußverkehr von Entscheidern und Entscheiderinnen nicht ernst genommen und hat keine ausreichenden Zuständigkeiten.

Auf Bundesebene wird er vielfach nur „mitgemeint“, wenn „beispielsweise im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastrukturen (BMVI) […] das Referat `Radverkehr RV1` für den Fußverkehr zuständig ist.“ Nach Auffassung von Dr. Harry Lehmann, Fachbereichsleiter „Umweltplanung und Nachhaltigkeitsstrategien“ im Umweltbundesamt „muss die Bedeutung des Fußverkehrs für eine nachhaltige Entwicklung der Städte in Deutschland ins Bewusstsein von Kommunen und Bevölkerung rücken. […]Mit einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie könnte es gelingen, den Stellenwert des Fußverkehrs zu erhöhen und in Strategien und Planungen von Bund, Ländern und Kommunen stärker zu berücksichtigen.“ Diese Aussage aus dem Vorwort fasst die Zielstellung der Veröffentlichung zusammen.

Inhalt

Nach einer kurzen Einleitung (Kapitel 1) wird im zweiten Kapitel die Bedeutung des Fußverkehrs für die Lebensqualität und die Mobilität der Menschen in den Städten in sieben Unterpunkten wiedergegeben: Fußverkehr ist die Grundlage der Lebendigkeit, das Basisverkehrsmittel im Umweltverbund, ein wesentlicher Gesundheitsfaktor, verursacht weniger Umweltschäden, stärkt die lokale Wirtschaft, bewirkt mehr soziale Gerechtigkeit und ist insgesamt eine Investition in die Zukunft. Die Aussagen des dritten Kapitels als eine Defizitanalyse wurden bereits als die Ausgangslage der Schrift kurz aufgezählt.

Für alle, die sich bereits intensiver mit Mobilitätsfragen auseinandergesetzt haben, dürfte das vierte Kapitel von besonderem Interesse sein, die Vorschläge für Ziele einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie. Hier werden aufbauend auf die derzeitige Situation ganz konkrete Zielwerte für die anzustrebende Weiterentwicklung genannt. So soll sich z.B. der Fußverkehrsanteil nach derzeitiger Erfassungsart des Modal Split in Kernstädten auf 41 % bis zum Jahr 2030 gegenüber 2015 erhöhen. Die Anzahl der tödlich verunglückten Fußgänger soll im gleichen Zeitraum um 20 % reduziert werden und der Flächenverbrauch für den ruhenden motorisierten Individualverkehr von 4,5 m2 (2018) auf 3 m2 (2030). Interessant auch die Zielvorstellung, dass sich die durchschnittliche Wegelänge pro Person und Tag im Durchschnitt für alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer von derzeit 12,5 km auf 8 km reduzieren soll.

Ein spannendes Kapitel sind natürlich die Handlungsempfehlungen, insbesondere diejenigen, die sich an Bund und Länder richten. Sei es auf der Ebene von veränderten Gesetzen und Regelwerken, sei es durch angepasste Förderschienen für investive und nichtinvestive Maßnahmen, sei es durch koordinierte Aktivitäten der Öffentlichkeitsarbeit und Schulung oder durch klare Regelungen der Zuständigkeiten.

Die Aussagen werden am Ende der jeweiligen Kapitel immer noch einmal in Stichworten zusammengefasst. Die Broschüre enthält darüber hinaus sehr überzeugende eigene Grafiken, die eine weitere Verbreitung verdienen.

Bewertung

Die Schrift ist ohne Frage ein Grundlagenwerk, hoffentlich auch für die Diskussion auf der politischen Ebene! Die teilweise vorsichtigen Formulierungen „könnte“ statt „sollte / müsste / muss“ sind möglicherweise dem sehr breit ausgewählten Beraterteam geschuldet, ändern aber nichts an dem insgesamt eindeutigen Empfehlungscharakter.

Als kleine Ungenauigkeit ist die Aussage zu erwähnen, dass sich zwar eine Gehweg-Standardbreite von 1,5 Metern „etabliert“ hat, „nach Meinung von Experten“ eine ungehinderte Begegnung aber „erst ab ca. 2,5 m Breite“ möglich ist. Dieses Maß ist seit 2002 die „erforderliche Seitenraumbreite“ (EFA 02) und seit 2006 die „Regelbreite eines Seitenraums (RAST 06), also Stand der Technik. Überhaupt sind die bereits vorhandenen Regelwerke und deren Standards eher ein wenig zu vorsichtig erwähnt worden, z.B. „sollte“ das Planungskonzept „von außen nach innen“ nicht „umgestellt“ werden, sondern es gilt seit immerhin zwölf Jahren als „Ziel“ jeder Straßenraumgestaltung.

Hinterfragt und weiterhin diskutiert werden sollte die Fragestellung, ob es sinnvoll und hilfreich ist, den in den letzten Jahrzehnten recht sinnvoll weiterentwickelten Regelwerken detaillierte Aussagen in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung hinzuzufügen oder gar „überzustülpen“. Dies könnte auch im Sinne eine Förderung der Nahmobilität nach hinten losgehen, wenn man dort z.B. wie in den noch gültigen Richtlinien für Ortsdurchfahrten an Bundesstraßen (ODR 08) eine förderfähige „Breite von 1,50 m (Regelbreite von Gehwegen)“ einführt oder irgendwelche Kompromisslinien zwischen 1,50 und 2,50 festlegt. Infrastrukturfragen sind allerdings nicht das Zentralthema der Veröffentlichung, doch ob man derzeit dem Bund stärkere Kompetenzen in dieser Hinsicht zubilligen sollte, ist sicherlich diskussionswürdig.

Die Veröffentlichung in der Reihe Texte „Für Mensch & Umwelt“ wurde zeitgleich mit dem Handlungsleitfaden „Schritte zur Einführung einer kommunalen Fußverkehrsstrategie“ von FUSS e.V. und mit einem vergleichbaren Verfahren (zwei Expertinnen- und Experten-Treffen vom Difu bzw. drei Fachbeiratssitzungen des FUSS e.V.) erarbeitet. Obwohl zwischen beiden keine direkten Feinabsprachen erfolgten, sind sie doch in der Gesamtzielrichtung wie auch in den Detailfragen eine echte Symbiose eingegangen und ergänzen sich selbst in den Gliederungen. Beide Texte zusammen bieten den Handlungsrahmen für notwendige Aktiviäten auf Bundes-, Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene.

Titel:

Umweltbundesamt (Hrsg.), Texte 75/2018: Geht doch! Grundzüge einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie, 54 Seiten, zahlreiche Fotos und Grafiken.

Verfasser:

Uta Bauer, Martina Hertel und Lisa Bachmann, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), mit Unterstützung durch Dr. Michael Frehn und Merja Spott, Planersocietät

Bezug:

Download und Bestellung unter www.uba.de → Publikationen

 

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2018. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Bernd Herzog-Schlagk.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.