Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 82/2015

Ausgangslage

Seit dem 1. Januar 2002 sind in den Schweizer Gemeinden über 200 Begegnungszonen in unterschiedlicher Ausgestaltung eingerichtet worden. Auf Nebenstraßen in Wohngebieten, Bahn­hofsgebieten und in Geschäftsbereichen sind Begegnungszonen ein wichtiges Instrument der Verkehrsplanung. Eine vom Schweizer Bundesamt für Strassen geförderte Studie auf Antrag der Schweizerischen Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten (SVI) bietet eine „Werkschau“ der bisherigen Anwendungen, gibt Empfehlungen für die Umsetzung und bewertet den Bedarf an einer Weiterentwicklung dieses Instruments. Die Studie erfolgte in Zusammenarbeit mit einer umfangreichen Begleitkommission, in der auch Vertreterinnen und Vertreter von Fachverbänden (Fussverkehr Schweiz etc.) mitwirkten.

Inhalt

Im Mittelpunkt der Studie steht ein umfangreiches Kapitel zu den Arbeitsschritten bei der Realisierung einer Begegnungszone. Die Analysen gründen sich auf Begehungen in 50 Begegnungszonen, auf diverse Experteninterviews und die Auswertung von Umfragen sowie Video- und Fotoaufnahmen.

Die Möglichkeit zur Einrichtung von Begegnungs­zonen wurde im schweizerischen Straßenverkehrsgesetz zeitgleich mit einer Anpassung der Vorschriften für Tempo-30-Zonen geschaffen. Diese beiden Instrumente werden als alternative Lösungen für Nebenstraßen in Wohn­quartieren und Geschäftsbereichen angesehen. In Begegnungszonen dürfen Fußgängerinnen und Fußgänger die ganze Verkehrsfläche benutzen. Sie sind gegenüber Fahrzeugführern vortrittsberechtigt sind, dürfen diese aber nicht unnötig behindern. Nur die Straßenbahn ist bevorrechtigt. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 20 km/h, Parken ist nur an gekennzeichneten Stellen erlaubt. Eine Einrichtung auf einer klassifizierten Hauptstraße ist nicht zulässig, sofern die Straße nicht zurückgestuft wird. Die Autoren unterscheiden Begegnungszonen in Wohnquartieren von jenen in Geschäftsstraßen. In Wohnquartieren (inklusive Schulbereiche) steht der Aufenthalt, das Verweilen und Spielen auf der Straße im Vordergrund. In Geschäftsbereichen historischer Ortskerne, neu entstehender Dienstleistungszentren oder vor Bahnhöfen soll dagegen vor allem das flächige Queren und Flanieren bei gleichzeitiger Erreichbarkeit durch den MIV ermöglicht werden. Für Begegnungszonen auf verkehrsorientierten Nebenstraßen mit hohem Durchfahrtsverkehr gibt es einige gute Beispiele, sie bewegen sich aber in einer gesetzlichen Grauzone.

Im Planungsprozess ist in einem ersten Schritt das Verkehrsregime zu wählen, d. h. eine Begegnungszone gegenüber anderen Lösungen abzuwägen (Tempo-30-Zone, Fußgängerzone, Reduktion der Streckengeschwindigkeit oder ein „flächiges Queren“ mit Hilfe gestalterischer und organisatorischer Maßnahmen bei „generell-50-innerorts“). Als Kriterien für eine Begegnungszone werden genannt: geringes Aufkommen des motorisierten Verkehrs (bis ca. 7.000 Fzg./d) auf einer siedlungsorientierten Straße mit wenig Durchgangsverkehr und wenig Suchverkehr, mittlere bis hohe Fußgänger Frequenzen mit einem flächigen Querungsbedürfnis oder einem Bedürfnis nach Aufenthalt und Flanieren. Wenn eine Begegnungszone gewählt wird, betrifft die nächste Entscheidung die Betriebsform Verkehrsmischung oder -trennung.

Eine Mischung setzt nach den Autoren geringe Fahrzeugfrequenzen, wenig Schwerverkehr, fehlende Linien des ÖPNV und einen geringen Parkplatzbedarf voraus. Wenn der Aufenthalt nicht auf der ganzen Verkehrsfläche möglich ist, können Aufenthaltsbereiche von den Fahrbereichen z. B. mit Rinnen, Belagswechseln und -bändern abgegrenzt werden. Das Bewusstsein, sich in einer Begegnungszone aufzuhalten, soll durch eine kontrastreiche Gestaltung des Zonenein- und -ausgangs (Torbildung) und allenfalls weitere farbliche und bauliche Gestaltungselemente im Verlauf der Zone geschaffen werden. Essentiell sind außerdem taktile und visuelle Gestaltungselemente für sinnesbehinderte Menschen.

Die Autoren empfehlen, bereits in der Phase der Situationsanalyse Einwohner und andere Betroffene (z.B. Gewerbetreibende) in einem partizipativen Prozess einzubeziehen. Damit kann die Festlegung der Zielkriterien und die Analysen anspruchsgruppengerecht erfolgen, Einsprachen werden minimiert und es ist wahrscheinlicher, dass die Begegnungszone später auch „gelebt“ wird. Mehrere Partizipationsverfahren werden vorgestellt: die formelle Mitwirkung im Sinne des Raumplanungsgesetzes, das Einrichten einer Begleitgruppe oder einer Spezialkommission (mit direkten Vorschlägen an die Gemeindeexekutive), partizipative Quartieranalysen zusammen mit verschiedenen Anspruchsgruppen, Workshops und Großgruppenveranstaltungen. Auch die Inbetriebnahme soll zusammen mit Anspruchsgruppen stattfinden (z.B. in Form von Festen). In der Anfangsphase sind auch „Tests“ durch Kinder unter Aufsicht der Eltern sinnvoll, damit sich Kinder mit der neuen Regelung vertraut machen.

Die Beurteilung der Wirkungen von Begegnungszonen fällt differenziert aus. In den gut gestalteten Zonen entsprechen die Wirkungen im Großen und Ganzen den Zielsetzungen. Es finden sich allerdings auch Zonen mit Verbesserungsbedarf. Der Fußgängervortritt ist meistens gewährleistet. Die Geschwindigkeiten werden als eher noch zu hoch bewertet (V85 über 20 km/h). Zum Unfallgeschehen liegen nur wenige Untersuchungen vor. Sie deuten auf eine geringfügige Abnahme der Anzahl und Schwere von Personenunfällen hin. Die Autoren machen einige Vorschläge zur Anpassung der bisherigen Verordnungen. So sollten Begegnungszonen nicht als eine mit einem Gutachten zu begründende „Abweichung“ vom Regelfall, sondern als zweiter Regelfall für innerörtliche Verkehrsregimes zur Verfügung stehen.

Bewertung

Die detailreiche und gut dokumentierte Studie greift auf die Erfahrungen zurück, die mit der Planung und dem Betrieb einer Vielzahl von Begegnungszonen unterschiedlicher Charakteristik gewonnen wurden. Die gewonnenen Erkenntnisse können auch die in Deutschland begonnene Diskussion über alternative Verkehrsregimes befruchten. Die Studie zeigt, dass Begegnungszonen in vielen innerörtlichen Bereichen zweckmäßig sind. Umfangreichere Wirkungsanalysen über verkehrliche Kriterien hinaus wurden bislang allerdings selten durchgeführt. In einer umfangreichen Sammlung von Beispielen aus verschiedenen Gebietstypen werden die Einsatzmöglichkeiten und Gestaltungsvarianten anschaulich in Text und Foto dargestellt; auf einzelne Mängel realisierter Zonen wird explizit hingewiesen.

Titel:

Begegnungszonen - eine Werkschau mit Empfehlungen für die Realisierung. Forschungsauftrag SVI 2006/002, Bern, Okt. 2013, 136 S.

Verfasser:

Rolf Steiner, Christine Zehnder, Aurélie Dubuis, Corinne Grünauer, Jessica Fässler, Jörg Matter, Katja Bessire, Rolf Albisser

Bezug:

www.mobilityplatform.ch (=> Forschungsberichte, Suchwort: Begegnungszone Werkschau)

Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Dezember 2015. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

Möchten Sie, dass eine aktuelle Fachliteratur mit einem deutlichen Fußverkehrs-Bezug im Kritischen Literaturdienst Fußverkehr besprochen wird, nehmen Sie bitte mit FUSS e.V. Kontakt auf.