Ausgangslage
Die Datengrundlagen zum Fußverkehr sind in den meisten Ländern, so auch in Deutschland, dürftig. Bundesweite Befragungen finden selten statt, in den Kommunen gibt sie oft gar nicht. Auch Fußverkehrszählungen werden im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr selten vorgenommen. Die Folge davon sind akute Wissenslücken in Bezug auf das Aufkommen und die Struktur des Fußverkehrs. Dies ist einer der Gründe dafür, warum der Fußverkehr in Verkehrsprognosen, Verkehrsanalysen und in Planungen oft nur undifferenziert betrachtet wird.
Dies war für eine Gruppe von Fußverkehrsexperten der Anlass, über Standards für die Erhebung des Fußverkehrs nachzudenken, dieses Thema in europäische Forschungsvorhaben einzubringen und in Workshops auf verschiedenen Tagungen (wie der Walk 21) auszuarbeiten. Ergebnis ist ein Handbuch für einen internationalen Standard zur Erhebung von Fußverkehrsdaten mit Befragungen („International Walking Data Standard“). Mit ihm soll eine Verbesserung der Methoden sowie eine gewisse Vereinheitlichung über Ländergrenzen hinweg, aber auch innerhalb der Länder erreicht werden.
Inhalt
Im Handbuch werden 12 methodische Aspekte von Befragungen behandelt. Zu jedem dieser Aspekte werden Lösungsvorschläge für drei Qualitätsniveaus unterbreitet. Die durchführenden Organisationen können so in Abhängigkeit von Anwendungszweck und verfügbaren Ressourcen jeweils das für sie geeignete Qualitätsniveau wählen. Die Vorschläge betreffen sowohl die Datenerhebung als auch die Darstellung der Befragungsergebnisse („reporting“). Außerdem werden fünf Schlüsselindikatoren zum Zufußgehen definiert, die auf jeden Fall auf Basis der Befragungen gebildet werden sollen. Sie definieren gewissermaßen, was man in diesem Kontext unter der Mobilität zu Fuß versteht.
Erhebungseinheiten sollen in den Befragungen die zurückgelegten Etappen von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel sein. Etappen sind Wegabschnitte, die mit demselben Verkehrsmittel zurückgelegt werden. So werden auch Etappen zu Fuß zur Haltestelle oder vom Parkplatz zum Wegziel erfasst und die Mobilität zu Fuß kann vollständig bestimmt werden. Nur im minimalen Qualitätsstandard wird auf das Erheben von Etappen verzichtet, es werden dann nur Wege mit einem Hauptverkehrsmittel erfasst. In einem Beispiel des Schweizer Mikrozensus Mobilität wird der Unterschied gezeigt: Der Bezug auf Etappen ergibt pro Person und Tag im Durchschnitt 2,3 Etappen und 2,03 km zu Fuß. Würde man Wege zu Fuß als Hauptverkehrsmittel berücksichtigen, käme man pro Person und Tag nur auf 1,0 Wege und 1,30 km zu Fuß. Gut ein Drittel der Gesamtdistanz zu Fuß wird also in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt.
Der erste Schlüsselindikator ist denn auch der Anteil von Personen in einer Bevölkerung oder innerhalb eines Gebiets, der am untersuchten Tag mindestens eine Etappe zu Fuß zurückgelegt hat. Der zweite Indikator ist die absolute Anzahl der Wege zu Fuß pro Person und Tag (im höchsten Standard unterschieden nach mobilen Personen und allen Personen). Drittens werden die durchschnittliche Zeit und viertens die durchschnittliche Distanz zu Fuß pro Person und Tag empfohlen (beim höchsten Qualitätsstandard wieder separat für mobile und alle Personen). Fünfter Schlüsselindikator ist die Aufteilung auf die Verkehrsmittel auf Basis von Etappen, Wegen nach Hauptverkehrsmittel, Unterwegszeit und Distanz.
Ein einziger Stichtag pro Person wird als ausreichend angesehen. Mehrere Tage sollten nur dann erhoben werden, wenn ein Rückgang der berichteten Wege mit zunehmender Anzahl Tage kontrolliert werden kann. Als Standard wird das Erheben nur einer Person im Haushalt vorgeschlagen. Dies sollen Personen ab 5 Jahren sein. Im höchsten Qualitätsniveau gibt es keine Altersgrenzen. Vor allem bei Erhebungen unterhalb der Bundesebene (z. B. in einzelnen Städten) stellt sich die Frage, wer zur Erhebungspopulation gerechnet werden soll. Je nach Zweck kann es ratsam sein, auch temporär dort wohnende Personen (Studenten, Wochenendpendler etc.) zu befragen, auch wenn sie woanders ihren Hauptsitz haben.
Bewertung
Die Dokumentation zu Befragungen in mehreren Ländern im Anhang zeigt, wie schwierig es ist, die Resultate angesichts der großen methodischen Unterschiede zu vergleichen. Auch bestehen in einigen Ländern, so auch in Deutschland, bedenklich geringe Ausschöpfungsquoten. Zu den Empfehlungen werden häufig Beispiele aus vorliegenden guten Befragungen präsentiert, die eine nützliche Orientierung darstellen. Sie verdeutlichen, dass die gesetzten, generell hohen Standards erreicht werden können.
Die Argumentation ist differenziert und gut begründet. Sehr allgemein bleibt der Vorschlag nur in Bezug auf die Zwecke von Fußwegen. Die sehr aufkommensstarke Kategorie „Freizeit“ wird auch auf dem höchsten Qualitätsniveau nicht weiter untergliedert. Dies sollte hier aber der Fall sein, um wichtige Wegzwecke quantifizieren zu können (etwa „Shopping“ versus zweckgerichtetes Einkaufen, Spazierengehen, Wandern, Fußweg zum Sport oder Spiel etc.).
Die Vorschläge haben zum Ziel, die Informationen über das Zufußgehen selbst zu verbessern. In den Befragungen sollten gleichzeitig aber auch noch Daten erhoben werden, mit denen man Erklärungen dafür findet, warum jemand gar nicht oder viel oder weit für bestimmte Zwecke zu Fuß unterwegs ist. Solche Erklärungen helfen beim Entwickeln von Planungsstrategien und Maßnahmen, bei Prognosen und beim Bewerten realisierter Maßnahmen.
Aussagen zur Integration entsprechender Inhalte in die Befragungen hätten ein zusätzliches Thema sein können. Man denke etwa an die Einstellungen der Befragten zum Zufußgehen, ihre Bewertungen zur Qualität der Fußverkehrsanlagen, etwaige Gewohnheiten und persönliche Normen in Bezug auf das Gehen, die sinnlichen Empfindungen während des Gehens oder die Bedeutung des gemeinsamen Unterwegsseins. Vielleicht müssen dazu aber erst noch weitere Grundlagen erarbeitet werden.
Titel:
International Walking Data Standard. Treatment of Walking in Travel Surveys. 58 Seiten, 2016
Verfasser:
Daniel Sauter, Tim Pharoah, Miles Tight, Ryan Martinson, Martin Wedderburn
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2016. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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