Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 10/1995
Ausgangslage
Im November 1994 hat das baden-württembergische Verkehrsministerium im Zusammenhang mit der Generalverkehrsplanung des Landes ein Experten-Hearing zur fußgängerfreundlichen Verkehrs- und Stadtplanung veranstaltet. Referenten waren neben dem Ministerialdirektor des Ministeriums (universitäre) Verkehrsforscher, Stadt- und Verkehrsplaner sowie der Orthopäde und frühere Mittelstreckenläufer Thomas Wessinghage. Die Vorträge des gutbesuchten Hearings sind (ohne die Diskussionen) in einem attraktiv gestalteten Tagungsband dokumentiert.
Inhalt
Ministerialdirektor Eckert berichtet, daß in Baden-Württemberg bis zum Jahr 2010 mit einer Steigerung der Verkehrsleistung des Fußgängerverkehrs von mehr als 11 % gerechnet wird. Die Umsetzung fußgängerfreundlicher Planungen obliegt den Kommunen. Das Land beabsichtigt jedoch eine Förderung von Gehwegen nach dem GVFG; Strassenbauämter des Landes sollen bei Stellungnahmen zu Kommunalplanungen verstärkt Interessen des nicht-motorisierten Verkehrs berücksichtigen, eventuell soll es auch zur Unterstützung von Pilotprojekten kommen.
Rolf Monheim stellt eine Fülle von empirischen Ergebnissen zur Fußgängermobilität vor. Er betont, daß eine gegenüber KONTIV differenziertere Erfassung des Fußgängerverkehrs zu Mobilitätsraten von mehr als fünf Wegen pro mobiler Person und Tag führt. Insbesondere eine bessere Erfassung von Zwischenwegen ist für eine realistische Abschätzung der Verkehrsleistung angebracht: Nach Schweizer Studien aus Brugg (siehe KLF 7/94) liegen die durchschnittlichen täglichen Fußweglängen unter Berücksichtigung aller Wegekomponenten deutlich höher als dies bisher in Standardbefragungen erfasst wird (Brugg: ca. 3,6 km pro Tag). Monheim geht ausführlich auch auf Fußwege innerhalb der Stadtzentren am Beispiel von Nürnberg und Aachen (siehe auch KLF 8/95) ein.
Der Planer und Literat Hans Boesch stellt in einem sehr anregenden Beitrag die Unterschiede in der Wahrnehmung bei einer langsamen und einer schnellen Fortbewegung (zu Fuß versus Pkw) dar. Er weist darauf hin, daß Fußgänger die "sinnliche" Stadt brauchen, da sie die Welt im Gegensatz zu den Autofahrern nicht "beschränkt" wahrnehmen.
Hermann Knoflacher geht in einem ebenfalls engagierten Beitrag dem Zusammenhang von Beförderungsgeschwindigkeit und Raumentwicklung nach. Die Vernachlässigung des Langsamen zeigt sich seiner Ansicht nach an der Ausdehnung und Gestaltung der Verkehrsflächen, die Fußgängern zugemutet werden (siehe auch KLF 9/95).
Reinhold Maier von der Beratungsstelle für Schadensverhütung analysiert die Sicherheit von Fußgängern im öffentlichen Raum. Auf 100.000 Einwohner kommen danach in Deutschland jährlich 157 Unfälle von Fußgängern und Radfahrern sowie 300 Stürze ausser Haus. Im Vergleich dazu sind 110 Fälle von Körperverletzung und Mord (in und ausser Haus) zu registrieren. Statistisch kommt nahezu jeder Einwohner der BRD im Laufe seines Lebens einmal als Fußgänger im Straßenraum zu Schaden. Maier postuliert, daß punktuelle Maßnahmen wie Lichtsignalanlagen, Fußgängerüberwege und Mittelinseln nur in Einzelfällen helfen, die linienhaften Sicherheitsprobleme für Fußgänger zu beheben. Als Maßnahmen schlägt er vor, Mittelstreifen anzulegen, Straßenbreiten im Kreuzungs- und Einmündungsbereich zu verringern, Fahrbahnränder von Fahrzeugen freizuhalten und die für Fußgänger wichtigen Straßen vom Kfz-Verkehr (durch Umgehungen) zu entlasten.
Die Planungspraktiker von Ungern-Sternberg (Freiburg), Regina Porth (Aachen), Raimund Scholzen (Trier) sowie Hannes Weeber gehen auf ausgewählte Aspekte der Verkehrsplanung ein. In Aachen wird danach in fünf Maßnahmenbereichen Planung für Fußgänger betrieben: bei der Ausdehnung von Fußgängerzonen (auch zu nicht-kommerziellen Zwecken), bei Gehwegen (Parken), mit fußgängerfreundlichen Signalanlagen und mit der "fußgängerfreundlichen Innenstadt".
Thomas Wessinghage stellt interessante sportmedizinische Aspekte des Zufußgehens dar. So ist der Mensch zum Zufußgehen geschaffen, im Alltag "sitzt er sich krank" und "schont sich zu Tode". Köperliche Aktivität kann z. B. das gleiche schaffen, was sog. Lipidsenker, die mit rd. 4 Mrd. DM jährlich kostspieligsten Medikamente in der BRD, leisten. Zudem beugen körperliche Aktivitäten Krebserkrankungen vor. Wessinghage empfiehlt daher in Anlehnung an sportwissenschaftliche Untersuchungen, sich etwa dreimal die Woche 40 Minuten zu belasten - wobei die Intensität eine untergeordnete Rolle spielt. "Warum also sollten wir das Zufußgehen nicht wieder zweckgebunden einsetzen, nämlich um von A nach B zu gelangen?"
Bewertung
Ähnliche Veranstaltungen wären auch in anderen Bundesländern wünschenswert. Der Stuttgarter Tagungsband deckt eine Reihe von Themen der gegenwärtigen Diskussion zum Fußgängerverkehr ab. Seine Stärken hat er da, wo über die klassischen Verkehrsplanungsthemen hinausgegangen wird (Beiträge von Boesch, Knoflacher, Wessinghage). Die Beiträge der Autoren aus der Planungspraxis enttäuschen insgesamt. Sie bleiben z. T. hinter dem Stand der Diskussion zurück, was auch daran liegt, daß in Freiburg und Trier tatsächlich keine fußgängerfreundliche Planung betrieben wird und daher auch nichts berichtet werden kann. Der Referent aus Trier ist zudem seinem Thema ausgewichen und berichtet nicht über "Fußgängerverkehr im Widerstreit", wie es durchaus möglich gewesen wäre (siehe dazu KLF 1/92). Zu wünschen wären auch konkretere Aussagen des Landes zur Förderung des Fußgängerverkehrs, zumindest in Form umfassender Empfehlungen an die Gemeinden als den eigentlich Planungsverantwortlichen. Abgesehen von den genannten inhaltlichen Schwächen, die letztlich den jeweiligen Referenten anzulasten sind, handelt es sich um einen attraktiv aufgemachten und stellenweise sehr lesenswerten Tagungsband. Auch die kostenlose Abgabe durch das Verkehrsministerium sollte zu einer Bestellung motivieren.
Titel:
Fußgängerfreundliche Verkehrs- und Stadtplanung
Herausgeber:
Verkehrsministerium Baden-Württemberg
Bezug:
Verkehrsministerium Baden-Württemberg, Referat 15, Hauptstätter Str. 67, 70178 Stuttgart, Tel. 0711/644-0, kostenlose Abgabe
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, November 1995. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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