Mit Aristoteles (als Denkmal sitzend) begann die Philosophie des aufrechten Gangs

Gehen macht den Menschen aus. Das Aufrichten und Bewegen auf zwei Beinen war buchstäblich der wichtigste Schritt zu unserer Entwicklung – diese These zieht sich durch die Geschichte der Philosophie, Anthropologie und Literatur. In der Antike schrieb Aristoteles über den Menschen: „Als einziges Lebewesen steht er aufrecht, weil seine Beschaffenheit und sein Wesen göttlich sind.“ [1] Ovid sah es ähnlich: „Die übrigen Wesen gehen gebeugt zur Erde hin. … (Gott gab dem Menschen) ein aufrechtes Gesicht und ließ ihn zum Himmel schauen, aufwärts den Blick empor zu den Sternen erheben.“ [2]

Wir springen ins Jahr 1784 zu Johann Gottfried Herder: „Die Gestalt des Menschen ist aufrecht; er ist hierin einzig auf der Erde. Nur durch eine zahllose Menge angestrengter Tätigkeiten ist unser künstlicher Stand und gang Möglich.“ Der Mensch sei „ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf“. [3]

Das beschreibt 2012 ähnlich und ausführlich der Kölner Philosoph Jürgen Goldstein: „Der vielleicht wichtigste und nachhaltigste Effekt der vertikalen Neuorganisation des menschlichen Organismus ist eine veränderte Optik. Die dafür gültige Form ist denkbar einfach: Wer steht, kann weiter sehnen. Die aufrechte Haltung ist das Maximum an optimierter Blickfähigkeit bei gleichzeitiger Beweglichkeit. …. Dem geweiteten Blick entsprach ein Bedarf an umfassender Intellektualität. Der Aufrichtung des Menschen folgte eine Zunahme der ihm möglichen Gegenstände des Erkennens.“ [4] Goldstein weist darauf hin, dass auch Charles Darwin im Aufrichten einen entscheidenden Evolutionsschritt sah: „Die aufrechte Haltung als Organisations- und Präsentationsform des Körpers besitzt für Darwin den unübersehbaren Stempel einer Ankunft im Höheren. Er hält an einem Symbol fest, dass den Hominiden auszeichnet: ,Nur der Mensch ist ein Zweifüßer geworden‘, sein aufrechter Gang ist ,eines seiner auffallendsten Merkmale‘.“

Schließlich der 1996 verstorbene Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg: „Der Mensch ist das Tier, das einen aufgerichteten Gang hat.“ Das sei „für die Entwicklung und Eigenart des Menschen entscheidend geworden“. [5]

Wie das Gehen seit Jahrtausenden immer wieder Anlass und Ausgangspunkt für menschliche Selbst-Definition und Selbstvergewisserung geworden ist, lässt sich im „Philosophie Magazin“ nachzulesen, das im Sommer 2018 dem Thema „Wandern“ eine Sonderausgabe gewidmet hat. Richtiger wäre es mit „Gehen“ betitelt, denn es geht auch um den kurzen, den städtischen, den beiläufigen kleinen und den gezielten alltäglichen Weg. Es enthält auch ein Interview mit dem Kölner Philosophen Kurt Bayertz – Autor von „Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens“:  

Wenn man sich die Geschichte der Selbstverständigung des Menschen anschaut, so fungiert der aufrechte Gang in ihr immer wieder als eine Art Linse, die philosophische und wissenschaftliche, anthropologische und metaphysische, kulturelle und politische Gedankenstränge bündelt.

In der Antike ist es vor allem das Denken, das als menschliches Alleinstellungsmerkmal aufgefasst und mit dem der aufrechte Gang in Verbindung gebracht wird. Sie finden sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles die Vorstellung, dass der Mensch genau darum aufrecht ist, weil er zum Denken bestimmt ist.

In der stoischen Philosophie kommt die Vorstellung hinzu, dass der Mensch geschaffen ist, um das Weltall zu betrachten, und dazu muss er aufgerichtet sein. Auch in der christlichen Theologie des Mittelalters wird behauptet, dass der Mensch aufrecht geschaffen wurde, damit er zu Gott aufschauen kann.

In der Neuzeit wird der aufrechte Gang ganz stark mit handfesten materiellen Vorteilen in Zusammenhang gebracht. Er ist nützlich, weil dann die Hände frei werden. Er wird auch als Symbol für die Würde des Menschen und als ein Zeichen für sein Freiheitsstreben angesehen.

Wenn Sie sich die Aufwertung des Gehens zum Freiheitsmerkmal im 18. Jahrhundert anschauen, dann ist da auch ein klassenspezifisches und mithin hochpolitische Element am Werk. Das Bürgertum will sich vom Adel abgrenzen, der zwar auch zu Fuß ging, aber nur in seinen Gärten, die durch hohe Mauern abgeschottet waren. Wenn die adeligen Damen und Herren in die Öffentlichkeit traten, dann führen sie mit der Kutsche. In expliziter Abgrenzung dazu wurde im Bürgertum das Gehen im öffentlichen Raum zur Tugend erhoben.

Die politisch-moralische Metaphorik des Gehens und des aufrechten Gangs zieht sich durch bis heute. Denken Sie an Ernst Bloch: „Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen, so schwer ist der aufrechte Gang.“ Oder Stefan Heym, der beim Zusammenbruch der DDR sagte: Wir sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.“ Wir sprechen auch von einem aufrechten Demokraten und meinen damit jemanden, der für seine Überzeugung einsteht. Man beachte auch hier das Wort „einstehen“. "Einsitzen“ ist etwas ziemlich anderes.

 

 

[1] Aristoteles Über die Teile der Lebewesen S.690

[2] zit. nach Jürgen Goldstein Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte S.12

[3] Johann Gottfried Herder Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit S.12

[4] Goldstein a.a.O. S.12

[5] Hans Blumenberg Beschreibung des Menschen S.518