Der sonntägliche Kirch-Gang, Kreuzwege, Pilgerwege, Prozessionen: Auch Glaube geht. Das kann introvertiertes, meditatives Gehen sein, Gruppenerlebnis oder öffentliche Demonstration. Allemal verbindet es das Geistige, Ätherische des Glaubens mit dem festen Boden. Der Autor und Literaturwissenschaftler Florian Werner sieht den spanischen Jakobsweg als Pfad zur Erdung und zugleich als Erdweg nach oben: „Die Pilgerwanderung füllt eine geistige Aufgabe mit Knochen, Sehnen und Muskelmasse. Wer sich vier Wochen lang durch die glühende Hitze Galiziens bis nach Santiago geschunden hat, der kann sich plausibel einreden, dem Himmel ein klein wenig näher gekommen zu sein.“
Natürlich ist Gehen zwecks Transzendenz, zur Spiritualität und Entrückung nicht nur ein christliches Phänomen. Juden, Muslime, Hindus, Buddhisten – sie alle kennen religiöse Umzüge und individuelles Gehen mit Lektüre, Meditation oder Gebet. Westliche Esoteriker, die sich selbst nicht als religiös begreifen, kennen es natürlich auch. So schrieb Ivan Chtcheglow 1951 in seiner „Formel für einen neuen Urbanismus“: „Die Erfahrung zeigt, dass das Umherschweifen den Gottesdienst problemlos ersetzen kann. Es ist eher imstande, eine Verbindung zwischen uns und allem möglichen Energien herzustellen.“
Zu Fuß zum Himmel, zur Seele, zu „allen möglichen Energien“ – unterstützend wirken dafür der gleichmäßige körperliche Rhythmus des Gehens, die selbstverständliche, keine Konzentration fordernde Bewegung und die auf guten Wegen zurückhaltenden, sanft wechselnden und wenig ablenkenden Umweltreize – sie stören oft weniger als die eine Fliege, die den im Sitzen Betenden oder Meditierenden umbrummt.
Und wenn da keine Fliege ist, sondern die Versenkung gelingt – dann kann im Sitzen passieren, was der Pariser Philosoph und Ostasien-Kenner Alexis Lavis beschreibt: „Der Körper ist der fixierte Raum, und somit beginnt der Geist zu wandern. Die Gedankenflut kann einen dann ganz benommen machen: Sie gewinnt buchstäblich die Oberhand.“ Bei der Geh-Meditation dagegen „wandert der Körper und wird zu einem Raum des ständigen Wechsels, wodurch der Gedankenstrom weniger heftig ausfällt. Die bewegte Präsenz des Körpers ist eine einfachere Basis für die Aufmerksamkeit als ein Gedanke, weil sie konkreter ist.“
Zugleich führt nach Alexis Lavis jeder Schritt von der Erde zur höheren Sphäre und zurück. Und dazwischen jede Sekunde in ein kleines Nirwana: „Dieser Moment des Schritts, in dem man sich nur auf einem Bein hält, ist ein Moment, in dem man fast in der Schwebe ist, und er erinnert an jenen anderen Moment zwischen Einatmen und Ausatmen. Es ist ein Zeit-Raum, in dem man nichts weiß, nirgends ist.“
Alle Zitate sind dem Sonderheft "Wandern" des Philosophie-Magazins entnommen