Welt-Begehung ist die beste Welt-Erfahrung. Auf zwei Beinen vereinen wir höchstmöglich Bewegungsfreiheit mit einem Blick, der in die Ferne oder Nähe führen kann, der schweifen oder sich auf einen Punkt fokussieren kann. Das Auge ist nicht der einzige Sinn, der durch Gehen privilegiert wird: Dabei hören, riechen und spüren wir am besten die Umgebung. Keine Lenk-Aufgabe und keine durchs eigene Tempo erzeuge Ge-Fahr lenkt uns ab; keine Hülle aus Blech und Glas isoliert uns. „Das Gehen erlaubt es, eine Erfahrung von Vertrautheit mit sich und mit der Welt wiederzufinden“ schreibt. Frédéric Gros, Autor von „Unterwegs; Eine kleine Philosophie des Gehens“, im Sonderheft "Wandern" des "Philosophie-Magazins".
Ebenfalls dort weist der Philosoph Pascal Bruckner auf die Paradoxie von Fahrzeugtempo und Bewegungslosigkeit hin: „Unsere Epoche beschreibt sich gern als Zeitalter der Geschwindigkeit. Unsere Alltagserfahrung hingegen ist, eingepfercht zu sein: U-Bahn, Bus, Auto, Flugzeug – einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir in rollenden Kisten. In korrekter Haltung sind wir hintereinander in unseren Sitzen ausgerichtet, eingeschnürt in Gurte, und sehen unseren Körper auf seine organischen Funktionen reduziert: Wir sind Gänse, die gestopft werden, damit sie schläfrig werden.“
Ganz neu ist die Erkenntnis nicht. Johann Gottfried Seume („Spaziergang nach Syrakus“) verglich 1805 die Fußreise mit der Kutschfahrt: „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“
Ganz ähnlich sah das der Schriftsteller Heinrich Reichhardt, Autor des ersten „Reisehandbuchs für Jedermann“: „Mancherley kleine, zum Theil äußerst angenehme Zufälle und Abentheuer stossen dem Fußgänger auf, wenn andern Eilenden in ihrem Wagen Alles wie in einem Guckkasten vorüberfliegt.“ (zit. hier S.24)
Auch das Tempo ist nicht erst heute manchen zu hoch, wie die Schriftstellerin Thea Dorn im Philosophie-Magazin erzählt: „Das Bedürfnis nach Entschleunigung gab es in Deutschland bereits, als es aus unserer heutigen Sicht noch im Schneckentempo zuging. Es gibt einen herrlichen Text von Joseph von Eichendorff, in dem er eine seiner ersten Fahrten mit der Eisenbahn beschreibt. Nach wenigen Stationen steigt er aus und geht zu Fuß weiter, weil er es nicht erträgt, die Landschaft rechts und links vorbeifliegen zu sehen.“
Der Literat Frédéric Gros empfiehlt uns Heutigen Befreiung von der Hetze: „Man wandert, um den Taumel der Langsamkeit zu verspüren. Zu Fuß gehen ist ein Operator der Entschleunigung des Lebens, der Zeit und des Raumes. Gehen heißt, sich der Obsession der Geschwindigkeit zu widersetzen, mit jedem Schritt wieder die Erfahrung es tatsächlichen Gewichts seines Körpers zu machen.“ Für Pascal Bruckner ist „das Gehen ein Protest gegen den Hausarrest; Man vertritt sich die Beine, um dem sesshaften Leben zu entkommen, wo man sich lediglich vom Bett ins Auto, vom Auto ins Büro, vom Büro zum Tisch und zurück bewegt.“
Aber Vorsicht: Selbst das Gehen kann zu schnell und unaufmerksam sein. Darüber lästerte vor 130 Jahren Friedrich Nietzsche: „Vergnügungs-Reisende. – Sie steigen wie Tiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es unterwegs schöne Aussichten gebe.“