Große Denker waren und sind immer wieder auch große Geher. Das zieht sich durch mindestens fünf Jahrhunderte Geistesgeschichte:

Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen.
Michel de Montaigne, Essais, 1580

Mit einer Feder in der Hand, meinem Tisch und einem Papierstoß gegenüber hab ich niemals etwas vollbringen können, sondern nur auf Spaziergängen. Im Gange liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht im Stande zu denken; mein Körper muss in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt.
Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, 1782

In dem Kreise des Lustwandelns muss die Aufmerksamkeit des Geistes nicht gespannt, sie muss mehr ein angenehmes Spiel als Ernst sein. Sie muss über den Gegenständen nur gleichsam leicht schweben, muss von den äußeren Gegenständen mehr angeregt, als von dem Geiste ihnen aufgedrängt werden. Mit offener Empfänglichkeit muss der Geist die Eindrücke der ihn umgebenden Dinge mehr ruhig aufnehmen, als leidenschaftlich sich über etwas erhitzen.
Karl Gottlob Schelle,  Die Spatziergänge oder die Kunst, Spatzieren zu gehen, 1802

Als ein Reisender einmal Wordsworths Haushälterin bat, ihm das Arbeitszimmer ihres Herrn zu zeigen, antwortete sie: „Hier hat er nur seine Bibliothek; sein Arbeitszimmer ist draußen.“
Henri David Thoreau: Vom Wandern, 1862

Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahren kann, wenn ich regelmäßig schlendere. Jetzt werden Sie bestimmt sagen: „Ich möchte doch allzu gerne wissen, was er dabei so denkt, während er läuft.“ Nun, zum Beispiel an Handwerker und Ladenbesitzer. Vergegenwärtige ich mir, dass diese nicht nur den Vormittag, sondern auch den Nachmittag drinnen verbringen,… so finde ich diesen Leuten gebühre durchaus ein wenig Anerkennung dafür, dass sie sie nicht alle längst umgebracht haben.
Henri David Thoreau: Vom Wandern, 1862

Unsere Gewohnheit ist im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend. So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden.  Das Sitzfleisch – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889

Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander. Wenn wir gehen, und dadurch unser Körper in Bewegung kommt, dann kommt auch unser Denken in Bewegung.
Thomas Bernhard, Gehen, 1971

Dis-curs – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin- und Herlaufens, das ist Kommen und Gehen, das sind „Schritte“, „Verwicklungen“.
Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 1988

Das Sonderheft des „Philosophie-Magazins" mit dem Titel "Wandern. Die Wege der Gedanken" hat Wissenschaftler und Intellektuelle verschiedener Disziplinen zu den Schritten befragt, die das Denken fördern. Auch sie sind sich alle einig:

Der Körper desjenigen, der vor seinem Computer sitzen bleibt, beginnt verloren zu gehen, er wird abwesend. Doch sobald man sich erhebt und losläuft, aktiviert sich der eigene Körper. Gehen ist die Hälfte meins Metiers. Schreiben ohne umherzugehen scheint mir schlicht unmöglich. Man schreibt mit den Füßen. Die intellektuelle Arbeit setzt Regelmäßigkeit voraus; die Regelmäßigkeit des Gehens entspricht der Regelmäßigkeit der Arbeit, und das Gehen ist das körperliche Metronom des Schreibens. Meiner Ansicht nach ist jeder Schriftsteller ein Wanderer.
Michel Serres, Schriftsteller und Kommunikationstheoretiker

Das Gehen macht den Körper wacher und die kontinuierliche Bewegung, die den gesamten Körper erfasst, öffnet die Aufmerksamkeit stärker; Gehen ist ein Ungleichgewicht, das man ständig wieder auffängt. Das ist eine interessante Basis für die Übung der Aufmerksamkeit.
Alexis Lavis, Philosoph

Wohl kaum eine körperliche Tätigkeit ist besser geeignet, das Meditieren oder Philosophieren zu befördern, als das Wandern?
Florian Werner, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler.

Und wie hängt das physiologisch zusammen? Dazu lässt das Philosophie-Magazin den Dresdner Neurologen und Hirn-Spezialisten Gerd Kempermann zu Wort kommen:

Es scheint so zu sein, dass bestimmte Formen der Bewegung, auch bestimmte Geschwindigkeiten, und vor allem die Regelmäßigkeit dieser Bewegungen, also der Rhythmus, sich auf die Hirnaktivität auswirken… (Die Rhythmen sind) grob gesagt regelmäßige von mittlerer Geschwindigkeit. Leute, die beim Gehen lernen, gehen nicht ganz langsam, sondern haben einen relativ flotten Schritt. (Das ist…) ein Takt, der für die Gehirnfunktionen wichtig ist. … Das Gehen ist – neben musikalischer Rhythmusgebung – vielleicht der simpelste, direkteste Weg, diese Frequenzen für das Gehirn bereitzustellen.

Die meisten werden das tagträumerische, ausschweifende Denken beim Gehen kennen, also dieses quasi Baumelnlassen des Geistes, der seinen Gedanken dann frei nachhängt. Umgekehrt beobachtet man auch Schachspieler, die herumgehen, um ein Problem analytisch zu durchdenken. … Man kann damit eine Denkblockade lösen, da hilft Bewegung fast immer.