Rezension aus dem Kritischen Literaturdienst Fußverkehr (Krit.Lit.Fuss), Ausgabe 18/1998
Ausgangslage
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert den Forschungsverbund „CITY: mobil“, in dem fünf Forschungsinstitute kommunale Handlungsperspektiven für eine stadtverträgliche Mobilität untersuchen und entwickeln. Ein Subprojekt dieses Verbunds, das am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt bearbeitet wurde, hat sich mit Mobilitätsstilen befaßt. Theoretische Grundlagen, Vorgehensweise, Ergebnisse und Schlußfolgerungen des Projekts sind in einem eigenen Bericht festgehalten. In ihm sind unter anderem in Freiburg und Schwerin durchgeführte Untersuchungen zur verkehrlichen und symbolischen Bedeutung des Zufußgehens in verschiedenen Mobilitätsstilgruppen dokumentiert.
Inhalt
Das methodische Instrumentarium der Studie umfaßte in den beiden untersuchten Städten je 50 explorative Leitfaden-Gespräche in Kombination mit Verkehrstagebüchern, quantitative Befragungen (in Freiburg mit 982 und in Schwerin mit 1011 Befragten) sowie Gruppendiskussionen. Mit Faktorenanalysen wurde untersucht, welche Hintergrundmotive die Befragten mit den einzelnen Fortbewegungsarten verbinden. Beim Zufußgehen bildet der wichtigste Faktor das „Zufußgehen als Entspannung und Naturgenuß“ ab. Dazu zählt z.B. die Intensivierung des Naturerlebens beim Zufußgehen, Entspannung und Erholung beim Spazierengehen und die Bekenntnis, auch längere Strecken zu Fuß zu gehen. Neben diesem „Pro-Faktor“ traten sowohl in Freiburg als auch in Schwerin „Contra-Faktoren“ auf: a) die Wahrnehmung von FußgängerInnen als benachteiligte, gefährdete, in der Verkehrsplanung wenig berücksichtigte Verkehrsteilnehmer; b) die geringe Erlebnisqualität (Spaß), die dem Zufußgehen in der Stadt zugeschrieben werden; c) die vor allem von Frauen sehr häufig wahrgenommene Bedrohung beim nächtlichen Zufußgehen in der Stadt.
Die Analysen zeigen, daß die Vorstellung des Spaziergangs als Erholung „in der frischen Luft“ völlig vom Zufußgehen in der Stadt getrennt ist. Selbst für Personen, die stark auf das Auto fixiert sind, hat das Zufußgehen als Naturgenuß, z.B. in Form von Spaziergängen am Wochenende, noch eine Bedeutung, als Fortbewegung im Alltag ist es jedoch völlig ausgeblendet. Personen, die das Zufußgehen noch sehr häufig auch im Alltag praktizieren - vor allem Frauen, ältere Personen, v.a. ältere Frauen - haben den Eindruck, inmitten des Straßenverkehrs benachteiligt und ungeschützt zu sein. Diese Gruppen werden auch nicht von jenen verkehrspolitischen Gruppen vertreten, die ihre Technikfixierung auf Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel übertragen haben. Die Autoren schließen daraus, daß sich ein problemangemessenes Vorgehen in Städten nicht darauf beschränken darf, neue Formen der Entkopplung des Verkehrs vom Auto zu finden. Vielmehr muß auch das „traditionelle Zufußgehen“ erhalten werden, indem es als normale Fortbewegung in der Stadt hervorgehoben und aufgewertet sowie vor anderen Verkehrsmitteln (auch dem Fahrrad) geschützt wird. Dies setzt nach Ansicht der Autoren einen einschneidenden Perspektivenwechsel und entsprechende planerische Maßnahmen voraus. In Schwerin müßte z.B. der Abwärtstrend beim Zufußgehen gestoppt werden, in Freiburg hat sich das Gehen auf niedrigem Niveau stabilisiert - nachdem viele Wege nun per Rad und nicht zu Fuß zurückgelegt werden.
Die Autoren unterscheiden folgende Formen des Gehens: das Zufußgehen als Form der Alltagsbewegung, bei der Strecken in der Stadt bewußt zu Fuß zurückgelegt werden, das Gehen als Lückenschluß zwischen anderen Verkehrsmitteln sowie das Spazierengehen in der Freizeit, das primär der Körperbewegung, dem Genuß frischer Luft und der Landschaftsbetrachtung dient. Aus den Gesprächen in Freiburg waren bei einigen Befragten auch bei Alltagswegen Orientierungen feststellbar, die mit „Sensualismus“ umschrieben werden: die Intensivierung des Kontakts zur natürlichen wie auch gebauten Umwelt durch bewußten Gebrauch der Sinne, die Wahl einer geeigneten Geschwindigkeit, Körperbewußtsein. Dies sind Vorteile, die konträr zu denen eines am Auto orientierten Mobilitätsleitbildes stehen. Auch Begriffe der Autonomie und Freiheit, die ansonsten im automobilen Kontext gebraucht werden, kamen in den Gesprächen im Zusammenhang mit dem Zufußgehen zum Vorschein (hier im Sinne einer Befreiung von Verkehrsmitteln).
In der Studie wurden für Freiburg und Schwerin Gruppen mit unterschiedlichen Mobilitätsstilen abgegrenzt. Das Zufußgehen spielt in Freiburg vor allem bei folgenden Typen eine positive Rolle im Verhalten bzw. in den Einstellungen zum Gehen (in Klammer: Anteile der Gruppen je Stadt): a) bei den traditionell Naturorientierten (24 %), für die das Zufußgehen - bei Tage und in der Natur - die schönste Fortbewegungsart ist; b) den ökologisch Entschiedenen (17%), hier jedoch nur bei den Einstellungen, im Verhalten gehen Personen dieser Gruppe nur durchschnittlich oft zu Fuß. In Schwerin hat das Gehen für folgende Gruppen einen positiven Stellenwert: a) bei den mobilen Erlebnisorientierten (12%), die 67 % aller Wege zu Fuß zurücklegen, v.a. Freizeit- und Versorgungswege; b) bei den unauffällig Umweltbesorgten (33%), überwiegend Frauen, die viele Alltagswege, v.a. zum Einkaufen, zu Fuß zurücklegen, die das Gehen nachts jedoch als ungeschützt/bedrohlich empfinden.
Für die jeweiligen Mobilitätsstilgruppen wurden Maßnahmenvorschläge abgeleitet, mit denen ein stadtverträglicher Verkehr gefördert werden soll. Bezogen auf den Fußverkehr gehören dazu in der Stadt Freiburg folgende Maßnahmen: Sicherheit/Schutz im Straßenraum bieten (für die Gruppe der statusorientierten Automobilen), die Affinität zum Gehen unterstützen, die Wegequalität verbessern (für traditionelle Naturorientierte), das Zufußgehen als Teil des Verkehrsnetzes kommunizieren (für ökologisch Entschiedene), kleinräumige Mobilität erleichtern (für traditionell Häusliche); für mobile Erlebnisorientierte in Schwerin: attraktive Erlebnisangebote in der Stadt schaffen.
Bewertung
Die Studie zeigt gut die unterschiedliche Wahrnehmung des Zufußgehens als Alltagsmobilität und als Spazierengehen (in der Natur) auf. Auch wird deutlich, wie stark sich der Stellenwert des Gehens zwischen den verschiedenen Mobilitätsstilgruppen unterscheidet. Plausibel ist der Vorschlag, Fördermaßnahmen viel stärker als bisher - auch im Fußverkehr - zielgruppenbezogen auszurichten. Wichtig sind die methodischen Anmerkungen zur empirischen Erfassung des Zufußgehens. Mit dem angewandten Untersuchungsdesign konnten in Freiburg und Schwerin deutlich höhere Anteile des Fußverkehrs als mit dem KONTIV-Verfahren gemessen werden. Die Autoren schließen daraus, daß die in Verkehrsbefragungen gemessenen Fußweeanteile stark von der angewandten Methode abhängen. Daraus ist abzuleiten, daß stärkere Anstrengungen zur Erfassung des Fußverkehrs unternommen werden müssen. Aus Sicht der Autoren betrifft dies v.a. die differenzierte Erfassung von Wegeketten (wodurch v.a. auch die Mobilität von Frauen besser abbildet wird), die Erfassung von „Anmarschwegen“ zu motorisierten Verkehrsmitteln (Wegetappen) sowie der Begleitwege mit Kindern. In Schwerin bzw. Freiburg enthielten beispielsweise 42% bzw. 54% aller Wegeketten Fußwege. In beiden Städten zusammengenommen bestanden 13% aller Wege aus Fußwegen innerhalb von Wegeketten, auf die 2% der Personen-Kilometer entfielen.
Titel:
Götz, Konrad; Jahn, Thomas; Schultz, Irmgard (Bearb.): Mobilitätsstile: ein sozial-ökologischer Untersuchungsansatz. Arbeitsbericht; Subprojekt 1. (= Forschungsbericht stadtverträgliche Mobilität, Bd. 7), Freiburg 1998, 344 Seiten.
Bezug:
über Öko-Institut e.V., Postfach 6226, 79038 Freiburg/Brsg.; E-Mail:
Impressum:
Erstveröffentlichung dieses Beitrages im InformationsDienstVerkehr IDV, Dezember 1998. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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