Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 53/2007
Ausgangslage
Der Anteil behinderter Menschen wird sich in Deutschland quantitativ und auch strukturell verändern: Wegen der Alterung der Bevölkerung wird es mehr Nutzer von Rollatoren, mehr schlecht Gehende, Sehende und Demente geben. Bei einem Anteil von temporär Mobilitätsbehinderten an der Bevölkerung von über 30% besteht schon heute ein großer Handlungsbedarf im Bereich der Verkehrsplanung. Es gibt mittlerweile zwar eine große Auswahl an Fachliteratur, darin werden meistens aber nur Teilaspekte behandelt. Auch vorhandene Planungs- und Baunormen eignen sich nur bedingt als Planungshilfen. Für Baumaßnahmen im Bestand können die darin - für Neubauten - festgelegten Standards oft nur sinngemäß angewandt werden.
Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, die Mobilitätsbehinderte betreffen, finden sich in verschiedenen Regelwerken, sind aber noch nicht systematisch und umfassend behandelt. Diese Ausgangslage war für die Hessische Strassen- und Verkehrsverwaltung der Anlass, einen Leitfaden für Stadt- und Verkehrsplaner in Städten und Gemeinden, für Planungs- und Ingenieurbüros sowie die kommunalen Behindertenbeauftragten zu erarbeiten und zu vertreiben.
Inhalt
Der Leitfaden soll einen Beitrag zur Weiterentwicklung auf Basis des heutigen Kenntnis- und Diskussionsstandes leisten. Ihm liegt ein einheitlicher Ansatz zur Schaffung von niveaugleichen Übergängen zwischen Gehweg und Fahrbahn unter Berücksichtigung der Sicherheitsanforderungen von Blinden zugrunde. Der Leitfaden ist als Ergänzung der einschlägigen Entwurfsrichtlinien und Regelwerke zur Straßenraumgestaltung, zum Straßenentwurf und zum Entwurf von Anlagen des ÖPNV gedacht.
Grundlage ist eine empirische Analyse von vorhandenen Ansätzen zur Barrierefreiheit in zwölf ausgewählten Projekten. Außerdem wurden in Hessen verschiedene Modellprojekte baulich umgesetzt und von Menschen mit Behinderung getestet, um weitere Anhaltspunkte für die Formulierung von Standards zu erhalten. Die Bewegungsabläufe von Fußgängern und Mobilitätsbehinderten sowie bauliche Lösungen wurden in einem 20-minütigem Film dokumentiert, der dem Leitfaden in einer CD beiliegt. Schließlich wurden die Arbeitsergebnisse an zwei Fachveranstaltungen vorgestellt - unter Beteiligung von diversen Behindertenorganisationen - und durch Forschungsansätze aus dem Ausland ergänzt.
Die im Zentrum des Leitfadens stehenden Standards zur Gestaltung von Bodenindikatoren und barrierefreien Fußgängerquerungsstellen sollen als Leitlinie zum Straßenentwurf bei Ämtern für Straßen- und Verkehrswesen dienen, eine Empfehlung für die Städte und Kommunen in Hessen sein und als Kriterien bei Genehmigungsverfahren sowie bei der Verkehrsinfrastrukturförderung (GVFG) herangezogen werden.
Einleitend werden Anforderungen verschiedener Gruppen von Mobilitätbehinderten - Gehbehinderte, sensorisch Beeinträchtigte, Blinde - an die Verkehrsinfrastruktur dargestellt. Für sensorisch Beeinträchtigte wird die Anwendung des „Mehr-Sinne-Prinzips“ empfohlen. Es fordert, mindestens zwei Sinne gleichzeitig anzusprechen (z.B. zusätzliche optische Anzeige von Fahrgastinformationen für Gehörlose). Anstelle der Kompromisslösung einer Bordabsenkung auf 3 cm wird der neu entwickelte „Kasseler Rollbord“ vorgeschlagen: Ein spezieller Formstein erzeugt eine relativ flache Anrampung und ist - für Rollstuhlfahrer und Benutzer von Rollatoren - mit einer gerippten Oberfläche ausgestattet.
Das vorgeschlagene System „Mobilität für alle“ soll folgende Elemente umfassen:
- barrierefreie, schwellen- und stufenlose Wegenetze mit Orientierungsmöglichkeiten für Blinde;
- Querungsstellen mit vollständig abgesenktem Bord für Gehbehinderte, aber auch gezielter Führung für Sehbehinderte und Blinde;
- das „Mehr-Sinne-Prinzip“;
- ein Leitsystem mit den beiden Bodenindikatoren Rillen- (Rippen-) und Noppenstruktur;
- ein einheitliches Leitsystem für Gehwege und Haltestellen mit den Grundinformationen „Gehe/Achtung/Stopp“.
In ausführlichen Kapiteln werden Entwurfsgrundlagen für Gehwege und Parkplätze sowie Querungsstellen und Haltestellen aufgezeigt; einzelne Bauelemente und technische Komponenten werden erläutert. Eine Dokumentation der in neun hessischen Modellprojekten baulich realisierten Lösungen rundet den Leitfaden ab.
Bewertung
Der Leitfaden dokumentiert umfangreich und konsistent die empfohlenen planerischen und baulichen Lösungen, die teilweise Innovationen darstellen („Kasseler Rollbord“). Breiten Raum nehmen die mit Musterzeichnungen dargestellten idealtypischen Entwurfsgrundlagen für verschiedene verkehrliche Situationen ein, deren textliche Erläuterung allerdings recht technisch gerät. Der Leitfaden ist insgesamt ein wichtiger Beitrag für die Umsetzung effektiver behindertengerechter Lösungen im Verkehr.
Titel:
Unbehinderte Mobilität - Leitfaden. Wiesbaden, Dez. 2006, 160 S.
Verfasser:
Bernhard Kohaupt, Armin Schulz
Bezug:
Hessische Strassen -und Verkehrsverwaltung, Wilhelmstr. 10, 65185 Wiesbaden, gedruckt mit CD-Rom (gratis) sowie als download: www.verkehr.hessen.de > Infomaterial > Barrierefreiheit
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, November 2007. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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