Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 72/2012
Ausgangslage
In der verkehrspolitischen Diskussion wird meistens nicht bestritten, dass mit dem Zufußgehen ein gesundheitlicher Nutzen verbunden ist. Die Größenordnung dieses Nutzens ist aber nicht bekannt. Dies ist vor allem dann hinderlich, wenn in ökonomischen Bewertungen von Verkehrsinvestitionen eine Reihe anderer Nutzen, z.B. Reisezeitverkürzungen, quantifiziert und in Geld ausgedrückt, die Nutzen für die Gesundheit aber vernachlässigt werden. Manchmal wird auch argumentiert, die gesundheitlichen Nutzen der Bewegung zu Fuß seien zwar vorhanden, für die Gesellschaft seien die Kosten aus den Unfällen der Zufußgehenden im Vergleich dazu aber höher. Ob dies der Fall ist, kann nur mit belastbaren Daten zu den gesundheitlichen Nutzen der Bewegung zu Fuß gesagt werden.
Mit dem Werkzeug des „health economic assessment tools HEAT“ gibt es seit 2011 eine Möglichkeit, diese Lücke für den Fußverkehr zu schließen. Ein Leitfaden zur Anwendung dieses Werkzeugs wurde vom Europabüro der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben (Quelle a). Die Methode wurde von einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hauptsächlich aus Groß-Britannien, der Schweiz und Finnland erarbeitet und von weiteren Experten begleitet. Die Fördermittel kamen vor allem von staatlichen Stellen aus Groß-Britannien, der Schweiz und von der WHO. Das entwickelte Berechnungswerkzeug ist als Applikation über das Internet zugänglich. Erste Anwendungen liegen für die Schweiz vor (Quelle b).
Inhalt
Im besprochenen Leitfaden sind die Methodologie, die einzelnen Schritte und die Anwendungsgebiete des Werkzeugs in Form einer Synthese der Arbeiten dokumentiert. Als Anwender werden vor allem Verkehrsplaner, Interessengruppen und Gesundheitsökonomen ins Auge gefasst. Das Tool kann zum Einsatz kommen, wenn die Wirksamkeit geplanter neuer Verkehrsinfrastrukturen für Zufußgehende im Bereich Gesundheit abgeschätzt wird. Es bietet hierbei auch die Möglichkeit, Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen, indem die Kosten der geplanten Maßnahmen einbezogen werden. Damit können z.B. verschiedene Planungs- oder Entwicklungsszenarien bewertet werden. Es können aber auch die gesundheitlichen Wirkungen von bereits realisierten Maßnahmen zu Gunsten des Fußverkehrs evaluiert werden, wenn Informationen über die Vorher- und die Nachher-Situation vorliegen.
Grenzen: Diese Anwendungen sind methodenbedingt allerdings auf ein durchschnittliches Verhalten und eine „durchschnittliche“ Bevölkerung bezogen. Sie erlauben es nicht, den gesundheitlichen Nutzen für ganz spezifische Bevölkerungsgruppen (z.B. überdurchschnittlich bewegungsaktive Sportler), für einzelne Events (z.B. Sportereignisse), für nicht regelmäßige Bewegungsaktivitäten oder für langsames Gehen (Bummeln) zu ermitteln. Auch können sie nur auf eine Population erwachsener Personen im Alter zwischen 20 und 74 Jahren bezogen werden, da für Kinder und Jugendliche geeignete Grundlagenanalysen zu Gesundheitseffekten noch nicht vorliegen. Belastbare Studien gibt es zudem nur für den Zusammenhang von Zufußgehen und Sterblichkeit (Mortalität) vor, weitere mögliche Effekte in Bezug auf Krankheiten (Morbidität) können bislang noch nicht zuverlässig abgeschätzt werden. Der gesundheitliche Nutzen wird deshalb eher unter- als überschätzt.
Im Kern basiert die Abschätzung auf der Ermittlung des relativen Sterberisikos, das sich in Abhängigkeit vom Ausmaß des (regelmäßigen) Zufußgehens in der Bevölkerung verändert. Bei Personen, die z.B. täglich rund eine halbe Stunde (29 Minuten) zu Fuß gehen, vermindert sich das Sterberisiko im Vergleich zu Personen, die praktisch nicht zu Fuß gehen, um 22%. Das reduzierte Sterberisiko wird in „verhinderte Todesfälle“ umgerechnet, die dann mit einem ökonomischen Ansatz für den „Wert eines statistischen Lebens“ in geldwerte Nutzen ausgedrückt werden. Dieses Verfahren ist im Verkehrsbereich auch in anderen Kosten-Nutzen-Analysen üblich.
Vorgehensschritte: Zur Berechnung des Gesundheitsnutzens werden folgende Eingaben gemacht: a) die aus Erhebungen stammenden Daten zum Zufußgehen, entweder die mittlere Dauer pro Person und Tag, die zurückgelegte mittlere Distanz oder die Anzahl Schritte; b) die Größe der betroffenen Bevölkerung respektive die Nutzerzahl einer spezifischen Fußwegeinfrastruktur; c) eine Angabe, ob die Wirkung auf alle Nutzerinnen und Nutzer oder nur auf einen speziellen Nutzerkreis bezogen wird (z.B. die durch eine Massnahme zusätzlich zum Gehen bewegten Personen); d) die Dauer, bis die volle Wirkung einer Maßnahme erreicht sein wird (Standardeinstellung sind fünf Jahre); e) Justierung einzelner Parameterwerte, z.B. ein landesüblicher Ansatz für den „Wert eines statistischen Lebens“ (EU: 1,5 Mio Euro mit Stand 1998; CH: 3,19 Mio. CHF); f) für Kosten-Nutzen-Analysen außerdem die Kosten einer Planungsmaßnahme oder einer Kommunikationskampagne.
Das Instrument berechnet als Schlüsselgröße den mittleren jährlichen Gesundheitsnutzen, falls Kosten einbezogen wurden auch den Nutzen-Kosten-Quotienten.
Bewertung
Das Bewertungswerkzeug „HEAT for walking“ stellt eine sehr nützliche Innovation dar. Schon die Ermittlung des Nutzens der aktuellen Bewegung zu Fuß verdeutlicht die große Bedeutung dieser Fortbewegungsart, wie erste Abschätzungen für die Schweiz zeigen (Götschi & Kahlmeier 2012: 4.700 verhinderte Todesfälle, rund 2.800 Franken Gesundheitsnutzen pro erwachsener Person und Jahr). Die Möglichkeit einer projekt- und kampagnenbezogenen Anwendung hilft vor allem Verkehrsplanern, diese lange vernachlässigte Nutzendimension in die Projektbewertung zu integrieren. Die Anwendung ist vergleichsweise einfach und mit wenig Aufwand möglich. Besondere Sorgfalt muss allerdings den Input-Daten zur Gehdauer und Anzahl der betroffenen Bevölkerung beigemessen werden. Der Leitfaden weist die Leserinnen und Leser zu Recht auf die Notwendigkeit einer guten Qualität der Erhebungsdaten hin.
Titel:
Health economic assessment tools (HEAT) for walking and cycling und Economic assessment of transport infrastructure and policies. Copenhagen 2011 (40 S.)und Ökonomische Abschätzung der volkswirtschaftlichen Gesundheitsnutzen des Langsamverkehrs in der Schweiz. Zürich 2012 (36 S.)
Verfasser:
WHO – Europe (Hrsg.) und Götschi, Thomas; Kahlmeier, Sonja
Bezug:
www.heatwalkingcycling.org und Universität Zürich: ISPM, www.ispm.uzh.ch/arbeitsbereiche/panh.html
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, August 2012. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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