Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe Nr. 79/2014
Ausgangslage
In vielen Ländern erreicht ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung nicht die empfohlene Dauer moderat-intensiver Bewegung von 150 Minuten pro Woche bei Erwachsenen bzw. 60 Minuten pro Tag bei Kindern. Die Ursachen hierfür werden nicht nur in individuellen Faktoren (z.B. mangelndem Wissen über die gesundheitlichen Konsequenzen), sondern auch in einer Verhaltensumwelt gesehen, die immer weniger zu einer körperlichen Bewegung anregt.
Der vor allem in den USA und einigen europäischen Ländern entwickelte wissenschaftliche Ansatz der Walkability soll Wege aufzeigen, wie dem Bewegungsmangel mit einer Kombination von verhaltenspräventiven Interventionen (mit Bezug auf die Individuen) und verhältnispräventiven Maßnahmen (mit Bezug auf den sozialen Kontext und die Verhaltensumgebung) entgegengewirkt werden kann. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht sportliche Aktivitäten, sondern die leicht- und moderat-intensive Bewegung im Zusammenhang mit Alltagsaktivitäten (Wege zur Arbeit, Spazierengehen etc). Der Sammelband enthält in 29 Kapiteln theoretische, methodische, konzeptionelle und praxisbezogene Beiträge, die diesem anspruchsvollen Ansatz verpflichtet sind.
Inhalt
Walkability geht über das Schaffen von fußgängerfreundlichen Bedingungen in einem verkehrsplanerischen Rahmen hinaus, denn der Begriff der Verhaltensumwelt wird „sozial-ökologisch“ sehr viel weiter gefasst. Er beinhaltet nicht nur die gebaute Umwelt (der Siedlungen und Verkehrsanlagen), sondern auch die soziokulturelle Umwelt, die natürliche Umwelt (z.B. Parks) und die informationsbezogene Umwelt (mediale Vernetzung etc.). Es wird angenommen, dass die objektive Ausgestaltung dieser Umwelten und deren subjektive Bewertung durch die Einwohnerinnen und Einwohner wichtige „Determinanten“ für das Ausmaß der Bewegung im Alltag darstellen. So gesehen sagt Walkability etwas über die Möglichkeit aus, sich im Alltag in einer gegebenen Umwelt ausreichend zu bewegen.
In statistischen Zusammenhangsanalysen wird untersucht, welche Form der Ausgestaltung dieser Umwelt zu mehr Bewegung führt. Im engeren Sinne wurden dabei auf Gemeindeebene fünf Dimensionen identifiziert: Dichte (z.B. Siedlungsdichte), Diversität (Nutzungsmischung), Design (Gestaltung von Siedlungen, Verkehrsanlagen und Aufenthaltsräumen), Erreichbarkeit von wichtigen Aktivitätszielen im Alltag sowie die Distanz zu Haltestellen des ÖPNV. Im weiteren Sinne werden auch ästhetische Qualitäten und Faktoren des sozio-kulturellen Umfeldes (z.B. die Art des Zusammenlebens in einem Quartier) hinzugerechnet. Insbesondere im Ausland wurden auf dieser Basis eine Reihe von Tools entwickelt, die eine Messung der Walkability auf Gemeinde- oder Quartiersebene mit Hilfe von Indizes ermöglichen sollen, um auf dieser Basis Ansatzpunkte für umweltbezogene Interventionen identifizieren zu können.
Der sozial-ökologische Ansatz der Walkability lässt sich zudem aus der im Jahr 2010 präsentierten „Toronto-Charta für Bewegung“ ableiten, die von Ländern, Regionen und Gemeinden ein Engagement für mehr Bewegung, unter anderem im Einflussbereich der gebauten Umwelt, fordert. Diese Charta wurde mittlerweile durch Dokumente zu Umsetzungsstrategien in einzelnen Handlungsfeldern ergänzt (u.a. in den Bereichen Verkehr und Stadtplanung).
Einige der Autoren plädieren dafür, eine solche Bewegungsförderung transdisziplinär - also in der Zusammenarbeit von Wissenschaft, Verwaltungen, weiteren Organisationen sowie Bürgergruppen - umzusetzen und zudem intersektoral anzulegen. Einzelne Formen der politischen und organisatorischen Verankerung eines solchen Ansatzes werden anhand von Fallbeispielen behandelt: z.B. die Funktion eines Fußgängerbeauftragten innerhalb der Stadtverwaltung (Wuppertal), Aktionskreise von Bürgerinnen und Bürgern in Stadtteilen von München und Göttingen, kommunale Gesundheitskonferenzen (in NRW) sowie das Programm einer strukturellen Bewegungsförderung in der Schweiz.
Bewertung
Die Beiträge dieses Sammelbandes geben einen guten Überblick über den Stand der Forschung im Bereich der Bewegungsförderung. Sie legen einen Schwerpunkt auf konzeptionelle Fragen und stellen die wesentlichsten Befunde zu den Zusammenhängen zwischen verschiedenen Einflussgrößen und dem Bewegungsverhalten zusammen, ohne allzu weit in methodische und empirische Details zu gehen. Insofern eignet sich das Buch auch für Personen, die sich neu mit diesem Forschungsfeld beschäftigen möchten.
In den Beiträgen wird häufig, wie in der US-Forschung, ein „transportbezogenes“ Gehen zum Erreichen bestimmter Wegziele (z.B. Einkaufsläden) von einem „freizeitbezogenen“ Gehen unterschieden, was analytisch allerdings grob und im Hinblick auf Gestaltungsmaßnahmen eher nicht zweckmäßig ist. Die theoretische Schwäche des Ansatzes liegt in seinem Hang zu umweltdeterministischen Erklärungen. Der Fokus der empirischen Forschung liegt auf statistischen Querschnittsanalysen (Untersuchung von Zusammenhängen zu einem gegebenen Zeitpunkt). Es liegen noch nicht viele fundierte Begleituntersuchungen von Interventionen in der Bewegungsumwelt vor. Die Befunde in den vorliegenden Studien sind zudem noch uneinheitlich.
Der Vorschlag transdisziplinär und intersektoral abgestimmter Programme der Bewegungsförderung mag richtig sein. Die Herausforderung besteht aber darin, solche komplexen Programme organisatorisch und finanziell zu Stande zu bringen und dauerhaft zu etablieren. Die in den Fallbeispielen präsentierten Erfahrungen sprechen eher dafür, mit enger abgegrenzten Programmen zu beginnen.
Titel:
Walkability. Das Handbuch zur Bewegungsförderung in der Kommune. Bern 2014 (352 S.)
Herausgeber:
Jens Bucksch & Sven Schneider
Bezug:
Verlag Hans Huber: Buch (49,95 Euro), eBook (42,99 Euro).
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewe-gung, Mai 2014. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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