Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 110/2022
Ausgangslage
„Durch die mit der demographischen Entwicklung einhergehende erhöhte Verkehrsteilnahme Älterer ist auch eine Zunahme der Anzahl von unfallbeteiligten Zufußgehenden zu erwarten. Darin begründet sich die Notwendigkeit, die sichere Mobilität als Fußgänger älterer Verkehrsteilnehmer und -teilnehmerinnen zu erwarten.“ So umfasst der Autor der Studie, Hardy Holter, korrekt die allerdings bereits eingetretene Situation. Die Studie baut auf den konzeptionellen Grundlagen der 2018 ebenfalls von der Bundes-Anstalt für das Straßenwesen (BASt) veröffentlichten „SeniorLife“-Studie auf.
Inhalt
In der Studie „Seniorwalk“ werden die Voraussetzungen einer problemfreien und sicheren Verkehrsteilnahme aus psychologischer Sicht untersucht Ältere Fußgänger:innen werden in der Stusie mit dem Alter 65+ definiert. Erfasst werden persönliche verkehrssicherheits- und mobilitätsrelevante Bedürfnisse und Erwartungen von älteren Fußgänger:innen sowie von ihnen wahrgenommene Barrieren.
Als Grundlage wird die Entwicklung der Verunglücktenzahlen in Deutschland bis 2019 aufgeführt – sowohl in absoluten Zahlen wie auch auf die Verkehrsleistung (zurückgelegte km) bezogen. Bei den Unfallursachen, die Fußgänger:innen „begehen“, wird deutlich, dass Ältere nur halb so oft betrunken unterwegs sind wie der Durchschnitt. Vom Bild, das sich viele jüngere Menschen von Älteren machen, weicht stark die Unfallursache „Sonstige körperliche und geistige Mängel“ ab. Bei weniger als zwei Prozent der Unfälle mit älteren Gehenden wird das als „Verschulden“ erfasst. Auch an Ampeln machen Ältere weniger Fehler; sie treten auch nicht so häufig „plötzlich hinter Sichthindernissen“ hervor und kompensieren damit offensichtlich auch das Nachlassen bei den Sinnen und der Beweglichkeit.
Nicht nur ältere Menschen haben Schwierigkeiten beim Queren von Fahrbahnen abzuschätzen, wie schnell die Kfz fahren. Jüngere und Ältere orientieren sich daher gewohnheitsmäßig eher an den Weg- als an den Zeitlücken: „Je weiter ein Fahrzeug von mir entfernt ist, umso sicherer ist das Queren einer Straße“.
In einem „Heuristischen Modell des Fußgängerverhaltens“ werden die möglichen Einflussfaktoren aus Gesellschaft, Umwelt und dem Individuum selbst auf das Kompensationsverhalten und damit der Sicherheit von älteren Fußgängern aufgezeigt. Veränderungen bei den Einflussfaktoren bewirken jedoch nicht unbedingt ein verändertes Verhalten, da die Einflussfaktoren individuell unterschiedlich bewertet werden. Das tatsächliche Mobilitätsverhalten wird von unterschiedlichen Erwartungen gesteuert. Diese Steuerung kann mehr oder weniger bewusst erfolgen.
(Nicht nur) ältere Fußgänger:innen haben relativ stabile Schemata entwickelt, die daher gegenüber Änderungsversuchen durch kommunikative Maßnahmen sehr widerstandsfähig sind. Daher bedarf es gut ausgearbeiteter Konzepte, um falsche bzw. nicht angemessene Schemata, die eine sichere Verkehrsteilnahme verringern, nachhaltig verbessern zu können. Die Konzepte sollten auf die verschiedenen Lebensstilgruppen unter den älteren Fußgänger:innen abgestimmt sein.
Im Rahmen einer repräsentativen empirischen Studie nahmen über 2.000 ältere Personen an einer Direktbefragung teil. Abgefragt wurden z.B. das Nutzungsverhalten bei modernen Medien, Gesundheitsmerkmale, Besitz einer Fahrerlaubnis, Häufigkeit des Gehens, Alltagsaktivitäten und der Zufriedenheit mit der örtlichen Verkehrssituation: Fast zwei Drittel der Befragten sind mehr oder weniger zufrieden damit.
45 vorgegebene Erfahrungen, wie etwa „schlecht markierte Wege“ oder „zu lange Wartezeiten an Ampeln“ werden von den Befragten nach ihrer gefühlten Häufigkeit (und wahrscheinlich der Schwere des Eindrucks) bewertet. Der „Spitzenreiter“ ist „fehlende Mittelinsel“, gefolgt von zu viel und zu schnellem Autoverkehr. Aber auch Falschparker und „rücksichtslose Radfahrer auf Gehwegen sind im vorderen Drittel platziert.
Auch die Einstellungen zum Gehen werden abgefragt, die meist genannten Beweggründe zum Gehen sind „Es tut mir gut, wenn ich in einer ruhigen Umgebung spazieren gehe“ (88,9 %), „Ich finde zu Fuß gehen nicht langweilig“ (86,2 %), „Als Fußgänger leiste ich einen wichtigen Beitrag für eine saubere Umwelt“ (86,4 %), „Als Fußgänger lebe ich gesünder“ (86,6 %).
Aus dem Abschnitt „Diskussion der Ergebnisse“:</
„Negative Erfahrungen sind kein Grund, weniger zu Fuß zu gehen. Offensichtlich werden die negativen Aspekte des Zufußgehens in Kauf genommen, möglicherweise, weil man – aus Sicht der Befragten - doch nichts ändern kann oder weil es für viele Fußwege keine gleichwertige Alternative gibt.“
„Neben den Erfahrungen spielt auch das kalendarische Alter keine nennenswerte Rolle als Einflussfaktor auf die Exposition des Zufußgehens. Die Häufigkeit des Zufußgehens ist nicht vom Alter der Person abhängig, wohl aber – in eher schwächeren Maße - von ihren berichteten gesundheitlichen Beschwerden.“
Auf gut zwei Seiten werden Handlungsempfehlungen geboten. Z.B. sollte bei Kampagnen auch die anderen Verkehrsteilnehmenden angesprochen werden. Besonderer Fokus sollte bei Ansprache der Senior:innen auf die Probleme gerichtet werden, die mit dem riskanten Queren einer Straße bestehen. Aber auch Verkehrsplanung und -politik sollten angesprochen werden und für bessere Infrastruktur und Verkehrsregelung sorgen. Schließlich werden tabellarisch mögliche Anknüpfungspunkte für Maßnahmen und für die „Selbstregulation“ älterer Fußgänger:innen aufgeführt.
Bewertung
In der Studie werden viele interessante Aspekte widergegeben oder neu erfasst; insbesondere zu den Themen Probleme, Bedürfnisse und Motive von älteren Fußgänger:innen. Manchmal bleiben für Menschen, die nicht Psychologie studiert haben, die Erhebungsmethoden undurchsichtig, manche Ergebnisse banal (z.B. „Personen geben umso häufiger an, ob sie häufig, ob sie viele oder ob sie lange Wege zu Fuß gehen, je stärker die Begeisterung für das Zufußgehen ausgeprägt ist“. Das ist kein unerwarteter Zusammenhang. Interessanter wäre gewesen, warum sie gerne gehen.)
Praktiker:innen werden die konkreten Handlungsempfehlungen zu kurz kommen.
Titel:
Seniorwalk, Ältere Fußgänger und Fußgängerinnen - Voraussetzungen einer problemfreien und sicheren Verkehrsteilnahme aus psychologischer Sicht. Reihe Berichte der bast, Mensch und Sicherheit, Heft M 314, 110 Seiten, 19 Euro oder Download
Verfasser:
Hardy Holte, Hrsg: Bundesanstalt für Straßenwesen , Bergisch Gladbach, September 2021
Bezug:
www.bast.de → Verhalten und Sicherheit → Publikationen → Berichte. Bei Heft M314 kommen Sie zum Download bzw. zur Bestellung beim Verlag
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2022. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Stefan Lieb.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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