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Begegnen und Flanieren im Zentrum der Bundeshauptstadt

In der Fußverkehrsstrategie für Berlin (vgl. mobilogisch! 3/10, S.17-21) ist als Modellprojekt 5 die Umsetzung von drei Pilotvorhaben „Begegnungszonen“ vorgesehen. Eine davon soll in einem „Bereich mit herausgehobener touristischer Bedeutung“ umgesetzt werden. Da lag es nahe, dass sich der FUSS e.V. jetzt mit dem Vorschlag in die Findungs-Phase einbringt, Deutschlands bekannteste „Flaniermeile“ in den Abwägungsprozess einzubeziehen. Nach einem ersten Fußverkehrs-Audit ergaben sich weitere Vorschläge für Maßnahmen, die für andere Modellprojekte oder Ziele der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ stehen. Der ziemlich genau eine Meile lange Straßenabschnitt könnte ein verbindendes Projekt mit Synergie-Effekten werden.

„Die Prachtstraße Unter den Linden zählt heute zu den berühmtesten Straßen der Welt. Sie ist für Einheimische und Touristen gleichermaßen ein beliebtes Ziel: Als Flaniermeile im Herzen Berlins bietet sie weltstädtisches Flair und ein Panorama großartiger historischer Bauten.“, so oder so ähnlich steht es in zahlreichen Reiseführern. Für viele der etwa 130 Millionen Tagesbesucher pro Jahr in Berlin dürfte die Straße eher eine Ernüchterung sein. Um ihren vorauseilenden guten Ruf besser einschätzen zu können, zunächst eine geschichtliche Einordnung:

Flanieren und marschieren

Die damals unbefestigte Straße besteht seit 1527 und wurde später zum Reit- und Jagdweg erklärt. Sie war und ist noch heute die breiteste Straße Berlins und blieb mit ihrer bis zu sechsreihigen Lindenbepflanzung über Jahrhunderte der Erholung und dem Vergnügen der Berliner vorbehalten. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte sie sich zur Prunk- und Prachtstraße der preußischen Residenz. Hier marschierte Napoleon an der Spitze seiner Garden 1806 durch das Brandenburger in Berlin ein und hier erhob sich sechs Jahre später das Volk gegen die napoleonische Unterdrückung. Die Straße Unter den Linden diente seither der Demonstration der Macht, sah Paraden, Fürstenempfänge, Bürgerkriege, ausziehende und heimkehrende Truppen und in Friedenszeiten hektische Verkehrssituationen und viele SpaziergängerInnen.

Auch im bürgerlichen Zeitalter behielt die Straße ihren Charakter als Promenade der Müßiggänger. Sie repräsentierte Preußen, und zwar sowohl das militärische, das sich im Zeughaus in aller Pracht zeigte, als auch das geistig-künstlerische, für das schon früh das erste Opernhaus der Welt außerhalb einer Schlossanlage stand. In der sogenannten Gründerzeit entwickelte sich die Straße zum eleganten, großbürgerlichen Boulevard. Doch bereits ein Jahr nach der Machtübernahme machten die Nazis aus ihr eine Aufmarschstraße. Die Mittelpromenade wurde schmaler und für schwere Fahrzeuge befestigt, die beiden Fahrdämme auf jeweils 14 Meter verbreitert und die Lindenbäume wurden abgehackt und durch Fahnenmaste ersetzt. Die Straße Unter den Linden war als Teil der 50 Kilometer langen Ost-West-Achse vorgesehen, die Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ machen sollte. Doch sehr bald danach waren von den 64 Gebäuden, die früher einmal zwischen dem Brandenburger Tor und der Universität gestanden hatten, nach Kriegsende nur noch 13 erhalten.

Verkehrsgeschichte

Die Straße Unter den Linden hat auch eine bemerkenswerte verkehrspolitische Geschichte. Eigens für sie gab es die ersten „Verkehrs“-Regeln - z.B. „Man grüßt Se. Majestät auf der Straße durch Frontmachen…“ - und Bekleidungsvorschriften für FußgängerInnen. Die Aufenthaltsfunktion der Straße war wichtig und so konnten um 1900 auf der Mittelpromenade neben den festen Bänken zusammen­klappbare Stühle gemietet werden, so dass man sich in kommunikativen Sitzgruppen positionieren konnte. Hier bekam auch die erste Konditorei die preußische Sondergenehmigung, Kaffeehaustische auf die Straße zu stellen. Unter den Linden war dann die erste Straße mit Gasbeleuchtung, hier erstrahlte erstmals elektrisches Licht in einem Restaurant und es gab das erste elektrifizierte Hotel.

Nachdem „feine Herrschaften“ vergeblich versuchten, Transportmittel auch für die „kleinen Leute“ zu verhindern, verkehrten ab 1846 hier die ersten „Doppeldecker“ (die Herren oben, die Damen unten) und ab 1905 auch die ersten motorisierten Omnibusse. An der Kreuzung Friedrichstraße regelte der erste Verkehrspolizist Preußens den Verkehr und tauschte wegen des Lärms bald seine Trillerpfeife gegen eine Trompete aus. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug übrigens 15 Stundenkilometer und man durfte bis 1928 auf beiden Straßenseiten in beide Richtungen fahren.

Die Straße Unter den Linden ist also als ein „Freizeitweg“ entstanden und wurde erst in den letzten Jahrzehnten ihrer nunmehr 485-jährigen Geschichte zu einer autobahnähnlichen Kraftfahrzeugschneise mit bis zu etwa 30.000 Fahrzeugen am Tag. Doch dürfte die Mehrheit der Touristen an dieser Stelle der Stadt noch immer zu Fuß unterwegs sein. Deshalb schlägt der FUSS e.V. vor, das durch die Nazi-Diktatur für eine innerstädtische Straße verfehlte Nutzungskonzept durch folgende Maßnahmen wieder rückgängig zu machen:

Mittelpromenade reaktivieren

Selbst in Tageszeiten mit einem verhältnismäßig geringen motorisierten Verkehrsaufkom­­men ist ein unbekümmertes Spazierengehen nicht möglich. Das liegt hauptsächlich an den sechs Unterbrechungen durch Querstraßen mit teilweise sehr geringem Kraftfahrzeugverkehr, die damit auch den knapp einen Kilometer langen Mittelstreifen unterteilen. Deshalb wird vorgeschlagen, durch die Herstellung niveaugleicher Gehwegüberfahrten, zumindest aber durch Teilaufpflasterungen, die Promenade aus der Sicht der Fußgänger optisch und auch verkehrsrechtlich zusammenzufügen, ohne die Straßenstruktur wesentlich zu beeinflussen. Darüber hinaus sollten Fußverkehrs-Audits an allen Querungsstellen durchgeführt werden, damit ein Wechsel der Straßenseiten und das Erreichen der Mittelpromenade für Fußgänger sicherer und komfortabler wird.

Licht für die Fußgänger

Nachdem die Nazis die an Kettenzügen über der Mittelpromenade hängenden Lampen entfernten, befinden sich heute an den Rändern diffuse Leuchtstäbe, die direkt am Fahrstreifen leuchten, den Fußgängern aber wenig nutzen. Auch in den Seitenbereichen werden fast durchgängig nicht die Gehwege, sondern die Pkw-Parkstreifen und Fahrradabstellanlagen beleuchtet. Deshalb gibt es an Straßenabschnitten ohne Schaufenster „Dunkelzonen“, wie sie ein großstädtischer Boulevard nicht haben dürfte. Es sollte also geprüft werden, in wie weit eine Verdrehung der Leuchten in den Seitenbereichen möglich ist oder ob gesonderte Beleuchtungseinrichtungen für die Fußwege anzu­bringen sind. Darüber hinaus ist durch Fußgänger-Audits festzustellen, ob durch die derzeitige schlechte Ausleuchtung der Querungsstellen die Fußgängerinnen und Fußgänger bei Dunkelheit erkennbar sind.

Fußwege vernetzen

Eine Flaniermeile Unter den Linden muss mit den anliegenden Fußverkehrsflächen vernetzt werden. So müssen die Mittelpromenade und die beiden seitlichen Gehwege an den Fußgängerbereich am Brandenburger Tor angebunden werden. Auf der anderen Seite der Flaniermeile muss das touristisch relevante Nikolai-Viertel (Berliner Altstadt) sicher und komfortabel über den „Spreeweg“ (Grüner Hauptweg Nr. 01) erreichbar sein. Stadt der von den Nazis geplanten überdimensionierten Stadtautobahn gäbe es dann eine West-Ost-Achse für Fußgänger und Flaneure.

Fazit

Wenn sich Berlin nicht nur als eine Stadt mit Flanier-Tradition, sondern auch aktuell als Stadt des Spazierengehens und Flanierens präsentieren möchte, muss die Straße Unter den Linden aufgewertet werden. Als einer der ersten Schritte wird empfohlen, die im Jahr 1934 vorgenommene Umgestaltung der Straße vom Boulevard zur Aufmarsch- und Kraftfahrzeugstraße, verbunden mit einer Abwertung der Mittelpromenade und Verbreiterung der Kraftfahrzeugflächen, schrittweise wieder rückgängig zu machen. Die Kosten für die vom FUSS e.V. vorgeschlagenen Maßnahmen sind verhältnismäßig gering, die Signalwirkung wäre dagegen über Berlins Grenzen hinaus erheblich.

In Kürze

In einer 27-seitigen Studie stellt der FUSS e.V. die wechselhafte Geschichte der über Deutschland hinaus bekanntesten Straße Unter den Linden als Verkehrsader, Aufmarschstraße und Flaniermeile dar, lässt Poeten und Schriftsteller ihre Eindrücke schildern und kommt zu dem Schluss, dass der Ruhm aus alten Zeiten stammt. Doch bietet die Beschlusslage zur „Fußverkehrsstrategie“ beste Grundlagen dafür, zukünftig wieder mehr Lebensqualität in diesen Straßenzug zu bekommen.

Begegnungszone

Es wird empfohlen, zumindest auf einer Teilstrecke eine „Begegnungszone“ für alle VerkehrsteilnehmerInnen einzurichten, in der nach dem Vorbild der Regelungen in der Schweiz, Frankreich und Belgien die Fußgänger Vorrang haben. Als Modell für diese Maßnahme könnte der Opernplatz in Duisburg stehen. Das Instrumentarium zielt ausdrücklich auf die Einbeziehung von Hauptverkehrsstraßen und ist deshalb bekanntlich trotz der Unterstützung durch VerkehrswissenschaftlerInnen und –verbände in Deutschland noch nicht in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert. Deshalb wird ein Modellvorhaben nach §46 StVO vorgeschlagen, mit dem französischen Zeichen für die Verkehrsberuhigung und mit Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Für den Linienbusverkehr sollen allerdings zwei Richtungsfahrbahnen erhalten bleiben. Damit soll der zentrale Bereich der Straße Unter den Linden verkehrsberuhigt und weitestgehend vom schnellen Autoverkehr entlastet werden.

Info:

Die Studie finden Sie unter www.flaniermeile-berlin.de und detaillierte Quellenangaben in der PDF-Version im Download-Bereich.

Informationen über die Fußverkehrsstrategie finden Sie unter www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/fussgaenger/strategie/index.shtml.

Den besten Überblick über die Regularien zur Verkehrsberuhigung bietet die Website www.strassen-fuer-alle.de.

Wer sich über die Aktivitäten des FUSS e.V. in der Bundeshauptstadt einen Überblick verschaffen möchte, findet diesen unter www.berlin-zu-fuss.info.

 

Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2012, erschienen.

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