Ein Bundesweit bemerkenswertes Modellvorhaben
In der Bundeshauptstadt hat sich der Anteil der Fahrradwege in den letzten Jahren auf 13 % und der Wege zu Fuß sogar auf 30 % erhöht, während sich der Anteil mit motorisierten Verkehrsmitteln (MIV) auf ca. 31 % vermindert hat (Modal Split 2008). Möglicherweise wird der Fußverkehr in diesem Jahr den MIV als Spitzenreiter ablösen. Ein Anlass mehr, um darüber nachzudenken, wie der Fußverkehr weiterhin gestärkt und Berlin zumindest Deutschlands „Fußgängerhauptstadt“ werden kann. In Europa wetteifern ja bereits andere Städte wie z.B. London oder Kopenhagen um diesen Titel, wohl noch eine Nasenlänge voraus. Berlin will diese Städte nicht „überholen“, ohne sie vorher „eingeholt“ zu haben, deshalb braucht alles seine Zeit. Es folgt ein Zwischenbericht.
Wohin der Weg führen soll
Im Erläuterungsbericht des 1994 beschlossenen Berliner Flächennutzungsplans wurde die Vision eines „stadtverträglichen Verkehrs“ mit „gleichwertigen Mobilitätschancen“ daran festgemacht, dass alle Bevölkerungsgruppen ohne Auto ihre Ziele in der Stadt in vergleichbaren Zeiträumen problemlos erreichen. „Nicht notwendiger Verkehr soll durch eine Stadtstruktur der kurzen Wege reduziert, der Anteil der umweltfreundlichen Verkehrsmittel durch ein leistungsfähiges Angebot im öffentlichen Verkehr und attraktive Wegenetze für Fußgänger und Radfahrer erhöht werden...“.
Im Jahr 2003, inzwischen waren alle Stadtteile von allen Bürgern begeh- und befahrbar, beschloss der Senat den „Stadtentwicklungsplan Verkehr“. Auch in dieser strategischen Leitlinie der künftigen Verkehrspolitik ist als Leitbild die „Stadt der kurzen Wege“ definiert, in der „die Mobilität im Nahbereich ... durch überall günstige Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer“ erleichtert werden soll. Beim Fußgängerverkehr werden Steigerungspotenziale gesehen, „wenn Sicherheit, Bequemlichkeit und Attraktivität der öffentlichen Räume erhöht werden“. In der „Teilstrategie Innere Stadt“ wird das Ziel formuliert, „durch Entlastung vom motorisierten Individualverkehr dem Fußgängerverkehr mehr Platz zu geben und die Bedingungen des Fußgängerverkehrs zu verbessern: durch ausreichend breite Gehwege, eine bessere Wegweisung und verbesserte Querungsmöglichkeiten von Hauptverkehrsstraßen.“
Im Maßnahmenkatalog ist die Weiterentwicklung und Umsetzung der Konzeption für ein fußgängerfreundliches Berlin näher ausgeführt, einschließlich der Benennung der prioritären Orte und Maßnahmen (Verbesserung der Bedingungen für den Fußverkehr insbesondere durch Verbesserung der Querungsmöglichkeiten an Hauptverkehrsstraßen / Erhöhung der Verkehrssicherheit, Verbesserung der Wegweisung, Verbesserung der Aufenthaltsqualität).
Fachbeirat und Selbstschulung
Ende September 2009 wurde durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Beratungsgremium „Berlin zu Fuß“ konstituiert. Berufen wurden zwanzig Mitglieder, darunter z.B. Prof. Dr. Rolf Monheim Uni Bayreuth, Michael Adler Fairkehr GmbH, Martin Schlegel vom BUND-Berlin, Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, der Polizei, des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, der Landesseniorenbeirat, der Behindertenbeauftragte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senatsverwaltungen und aus den Bezirken, sowie der zum Sprecher des Beirates gewählte Vertreter des FUSS e.V. (Autor). Die Mitglieder und weitere Gäste und Referentinnen und Referenten trafen sich bis Anfang Mai 2010 zu vier weiteren Tagessitzungen. Die Moderation lag bei Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Spath & Nagel. Geleitet und aktiv unterstützt wurde das Gremium vom Abteilungsleiter (Verkehr) Dr. Friedemann Kunst, dem Referatsleiter (Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik, Verkehrsentwicklungsplanung) Burkhard Horn, dem Referatsleiter (Planung und Gestaltung von Straßen und Plätzen) Heribert Guggenthaler und nicht zuletzt durch den für den Fußverkehr zuständigen Mitarbeiter Horst Wohlfahrth von Alm.
Mitte Dezember 2009 führte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zum Thema „Begegnungszonen“ ein zusätzliches Workshop durch. Darüber hinaus fand Mitte April 2010 ein Experten-Workshop zum Thema „Berlin – Hauptstadt der Fußgänger!“ statt, an der drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung, der Beirats-Moderator, sowie 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. teilnahmen, einem durch Hanna Schlagk moderiertem Brainstorming. Ziel der Gesamtheit dieser Veranstaltungen war die „Beratung bei der Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Berlin“ (Einladungsschreiben der Staatssekretärin Maria Krautzberger, 21.7.2009).
Das Verfahren entwickelte sich schnell zu dem wohl bisher umfangreichsten Fachseminar in Deutschland über Fußverkehrsfragen und war dank der einleitenden Grundlagen durch die Moderation von vorne herein ergebnisoffen und thematisch breit angelegt. Der Bogen spannte sich über Themenschwerpunkte wie „Infrastruktur für den Fußverkehr“, „Netzzusammenhänge“, „Gesundheit und Sicherheit“ zu „Information und Kommunikation“. Behandelt wurden neben den im Zusammenhang mit dem Fußverkehr zu erwartenden Themen wie z.B. „Querungsanlagen“, „Erreichbarkeit von Haltestellen“, „Verkehrssicherheit“, „Zu Fuß zur Schule“ oder „Wegweisungen“ auch nicht so häufig diskutierte Themen wie z.B. „soziale Sicherheit“, „Beleuchtung“, „Sitzgelegenheiten“ und „Fußgängerstadtpläne“. Durch die Fachreferenten aus Berlin, anderen deutschen Städten und der Schweiz und die sehr intensiven und kompakten Diskussionen waren die Beiratssitzungen für alle Beteiligten gleichzeitig Innovation und Lernprozess. Dies wurde berücksichtigt durch die Aufnahme eines „Weiterbildungsangebot(es) für Mitarbeiter zum Thema Fußverkehr“ und die Verpflichtung zu einer „Koordination und Abstimmung der beschlossenen Maßnahmen innerhalb der öffentlichen Verwaltung“ in die Umsetzungsstrategie.
In der letzten Sitzung wurde der durch die Moderation kontinuierlich ergänzte Entwurf einer „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ noch einmal durchgehend im Zusammenhang diskutiert und es wurden die Schwerpunkte für mögliche Modellvorhaben festgelegt. Dieser Entwurf wird nun dem Senat und dem Rat der Bürgermeister als Beschlussfassung vorgelegt. Der Beirat „Berlin zu Fuß“ soll das Verfahren durch jährliche Sitzungen „nachsteuernd“ begleiten, die vertretenen Akteure an der Umsetzung der Strategie mitwirken.
Ziele und Leitlinien
Der noch nicht beschlossene Entwurf enthält eine sehr gute Zusammenstellung der Argumente für die Förderung des Fußverkehrs, eine auf die Sachbereiche verteilte Analyse der bestehenden Bedingungen für Fußgänger in der Stadt und darauf aufbauend zahlreiche zum Teil sehr differenzierte Maßnahmenvorschläge für alle Politik- und Verwaltungsebenen. Unabhängig von den noch möglichen Änderungen im Abstimmungsprozess lassen sich aber bereits beispielhaft die drei strategischen Ziele benennen:
- Steigerung der Nutzerzufriedenheit: 2011 soll „eine Methodik zur Bestimmung der Zufriedenheit unterschiedlicher Nutzergruppen… entwickelt und eine Ausgangsbefragung durchgeführt“ werden. Bis 2016 soll der Anteil „zufrieden oder sehr zufrieden… um mindestens 10 % gesteigert werden.“
- Senkung der Unfallzahlen: „Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten oder schwer verletzten Fußgänger soll (gegenüber 2009) bis 2016 um mindestens 20 % reduziert werden.“
- Barrierefreie öffentliche Räume: „Bis 2010 sollen alle wesentlichen Fußverkehrsverbindungen und Gehwege an Einmündungen und Kreuzungen … barrierefrei nutzbar sein.“ Mit diesem Ziel wären z.B. weit über ¼ aller Maßnahmenvorschläge aus dem Projekt „Querungsanlagen im Verlauf der 20 Grünen Hauptwege in Berlin“ zu erledigen (vgl. Beitrag „Fußverkehrs-Audit in der Bundeshauptstadt“).
„Voraussetzung für eine effiziente Umsetzung dieser Ziele sind insbesondere folgende Schritte:“
- „Der Anteil der Ausgaben für den Fußverkehr am Verkehrsetat Berlins (soll) schrittweise erhöht (werden), um längerfristig ein Volumen zu erreichen, das seinem Anteil am Gesamtverkehr gerecht wird (Orientierung: 3 Euro pro Einwohner jährlich für speziell auf den Fußverkehr ausgerichtete Programme und Projekte)“, das entspricht etwa 10 Mio. Euro im Haushaltsjahr.
- In der Fußverkehrsstrategie werden zehn Modellprojekte benannt, die spätestens 2012 begonnen und bis 2016 umgesetzt sein sollen, wobei von einem „geschätzten Kostenvolumen von rund 2 Mio. Euro für alle 10 Projekte (d.h. 500 Tsd. Euro/Jahr)“ ausgegangen wird.
- Es wird festgestellt, dass „Sichtbarrieren wie hohe Hecken, geschlossene Erdgeschosse, mit Werbung zugeklebte oder durch Jalousien verschlossene Fenster“ auf Fußgänger demotivierend wirken und deshalb „Bezirke und Senat … im Rahmen der Bauleitplanung sowie von Bauberatung und Baugenehmigungsverfahren und bei ihren eigenen Vorhaben darauf hin(wirken), dass eine straßenzugewandte Bebauung mit gut erreichbaren Zugängen und möglichst vielfältigen und publikumsorientierten Erdgeschossnutzungen realisiert…wird.“
- Im gleichen Sinne werden „die Bezirke und die Senatsverwaltung… bei der Aufstellung von Bebauungsplänen und der Prüfung und Genehmigung von Vorhaben darauf hinwirken, dass … (Einzelhandelsstandorte, Einkaufsstraßen und Zentren) für Fußgänger auf kurzen, sicheren und attraktiven Wegen erreichbar sind und optimal in die örtlichen Fußgängernetze integriert werden.“
- Sehr intensiv diskutiert wurden „Routen und Netze für den Fußverkehr“, die nach Auffassung der Beiratsmitglieder neben den Gehwegen „für den Fußverkehr von herausragender Bedeutung sind“ und für die Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung des Fußverkehrs auf Freizeit- und Alltagswegen genutzt werden sollen. Darüber hinaus sind „bei Netzplanungen … Umwege zu erfassen und Möglichkeiten einer Abkürzung (z.B. über Kleingartenwege, Blockdurchwegungen…) zu prüfen.“
- Trotz des „im Vergleich mit anderen Städten überwiegend … guten Qualitätsstandard(s)“ der berliner Gehwege und des hohen Standards der Ausführungsvorschriften soll „eine Planungshilfe für die Durchführung von teilräumlichen Schwachstellenanalysen (Fußverkehrs-Audis)“ erarbeitet und in einem Beispielraum getestet werden. „Gefahrenpunkte im vorhandenen Fußverkehrsnetz (sind) – auch unabhängig vom Unfallaufkommen – zu identifizieren und geeignete Maßnahmenvorschläge zu entwickeln.“
- Lichtsignalanlagen wurden im Verhältnis zu anderen Themenstellungen im Beirat recht zurückhaltend diskutiert. Es sollen drei Pilotprojekte umgesetzt werden, zur „Erhöhung von Sicherheit, Komfort und Klarheit sowie der Beschleunigung des Fußverkehrs (direkte Überquerung im Wegeverlauf, Reduzierung der Querungsweiten, fußgängerfreundliche Signalschaltungen).“ Das gemeinsam vom BUND und FUSS e.V. eingebrachte Positionspapier „Fußgängerfreundliche LSA-Schaltungen in Berlin“ soll bei der Präzisierung der Pilotprojekte herangezogen werden.
- Um gleichzeitig Fuß- und Radverkehr zu fördern, sollen „mit Vorrang Lösungen zur Führung des Radverkehrs außerhalb der Bewegungsräume des Fußverkehrs“ verfolgt werden. Dies soll auch auf die Bereitstellung von Fahrradabstellmöglichkeiten zutreffen, die nötigenfalls im Fahrbahnbereich anzuordnen sind.
- Beschleunigungsmaßnahmen im öffentlichen Personennahverkehr ÖPNV sollen „den Umweltverbund insgesamt im Fokus … haben…. Bei Maßnahmen an Lichtsignalanlagen zur Beschleunigung (des ÖPNV) sind die Auswirkungen auf die Belange des Fußverkehrs sorgfältig abzuwägen.“ Darüber hinaus sind „die Zuwege zu den Haltestellen … fußgängerfreundlich, umwege- und barrierefrei zu gestalten.“
- „Berlin will sich beim Bund dafür einsetzen, die Begegnungszone oder eine ähnliche verkehrliche Regelungsmöglichkeit in der Straßenverkehrsordnung zu verankern“ und will entsprechende Pilotprojekte fördern. „Im untergeordneten Netz, in dem i.d.R. (bereits) Tempo 30 gilt, werden die Bezirke für Straßen mit besonderen Anforderungen für den Fußverkehr Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 20 km/h bzw. 10 km/h prüfen.“
- Die zitierte „Fußverkehrsstrategie für Berlin, Spath+Nagel (Hrsg.), im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Abt. VIIB, Stand 6.5.2010“ ist aufgrund des laufenden Beschlussverfahrens nicht veröffentlicht.
- Bei Interesse: www.stadtentwicklung.berlin.de > Verkehr > Verkehrspolitik und Verkehrsplanung > Fußgängerverkehr > z.B. Beispiele aus der Praxis
- Die Auswertung des Workshops finden Sie unter fuss-ev.de > Themen > Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele > Berlin-Hauptstadt der Fußgänger!
Die Finanzierung der Umsetzung der Fußverkehrsstrategie fußt auf einem laufenden (Fußgängerüberwege-Programm) und drei neuen Bausteinen: 10 Modellprojekte, Programm „Barrierefreie öffentliche Räume“ und eine Verstetigung von Förderprojekten zum Fußverkehr ab 2017.
Handlungsfelder und Maßnahmenbereiche
Neben den in einer Fußverkehrsstrategie zu erwartenden allgemeinen Aussagen wie z.B. „Stadt der kurzen Wege“, „ausreichend häufige, bedarfsgerechte, kurze und sichere Querungsmöglichkeiten über die Fahrbahnen des Autoverkehrs“ usw. sollen folgend nur einige wenige weitere Maßnahmenbereiche erwähnt werden:
Fazit
Die in der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ enthaltenen Maßnahmen und Modellvorhaben sind für ein Programm einer deutschen Kommune bahnbrechend; sie werden bei Umsetzung dennoch nicht flächendeckend die gesamte Stadt fußgängerfreundlicher machen. Sie können allerdings das Klima wesentlich verbessern und Merkpunkte setzen, an denen das Thema „Umweltverbund“ weiter diskutiert werden kann. Bekanntlich sind auch verkehrspolitische Entwicklungen und Weichenstellungen von personellen Besetzungen und Zusammensetzungen abhängig. In der Berliner Verwaltung sind diese zurzeit so „fußgängerfreundlich“ wie nie zuvor. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der Wille seitens aller Beteiligten ist glaubhaft, wird aber immer wieder – verwaltungsintern und in der öffentlichen Diskussion - auf dem Prüfstand stehen. FUSS e.V. will weiterhin kontinuierlich und konstruktiv mitwirken, nicht zuletzt auch wegen der erhofften Ausstrahlung dieses Modellprojektes auf andere Kommunen in Deutschland.
In Kürze
Nach der Radverkehrsstrategie wird in Berlin, wie vom Senat bereits vor sieben Jahren beschlossen, eine Fußverkehrsstrategie auf den Weg gebracht. Die in der noch nicht öffentlich vorliegenden Fassung enthaltenen programmatischen Aussagen stehen „unter dem übergeordneten Ziel einer stadt-, sozial- und umweltverträglichen, gesunden, sicheren und ökonomisch effizienten Bedienung der städtischen Mobilitätsbedürfnisse“. Die damit verbundene Kommunikationsstrategie soll „ein Verkehrsklima schaffen, das den Fußverkehr als selbstverständlichen und gleichberechtigten Bestandteil der städtischen Mobilität begreift und begünstigt.“
Info:
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.
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