Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 86/2016
Ausgangslage
In den meisten Städten sind Daten über den Fußverkehr für kleinräumige Gebiete nicht verfügbar. Besonders ungünstig ist die Situation in Bezug auf das Verweilen und den Aufenthalt im öffentlichen Raum. Ein Grund dafür kann in der Komplexität der Thematik liegen, denn das Gehen und das Verweilen wechseln sich in der Regel ab. Und beim Verweilen selbst handelt es sich um sehr vielfältige, oftmals auch kurzzeitige Phänomene, die zudem über den Tag, die Woche und die Jahreszeiten hinweg stark variieren. Nach den wenigen vorliegenden Befunden übersteigt die Dauer des Verweilens im Mittel die Dauer für das reine Gehen.
Der Mangel an geeigneten Datengrundlagen ist auch deshalb zu beklagen, weil sich eine Reihe von Städten das Ziel gesetzt hat, die Aufenthaltsqualität zu erhöhen. Denn sie wird als eine wichtige Komponente der Lebensqualität der Einwohner oder aber als ein gutes Mittel zur Anziehung von Besuchern und Touristen angesehen. Momentan weiß man allerdings noch wenig darüber, wie bauliche Gestaltungen mit bestimmten Arten des Aufenthalts zusammenhängen, denn bei Umgestaltungen im öffentlichen Raum werden selten Wirkungskontrollen durchgeführt.
Glaubt man Aussagen des Architekturbüros von Jan Gehl, geht mit einer Erhöhung der Aufenthaltsqualität eine markante Belebung von vormals wenig belebten Innenstädten einher. Von Gehl selbst liegt ein englischsprachiges Handbuch der Methoden zur Studie des öffentlichen Lebens in Städten vor. Auch die von Fussverkehr Schweiz herausgegebene Broschüre „Qualität von öffentlichen Räumen“ deckt dieses Thema teilweise ab. Es werden hierin verschiedene Methoden zum Erfassen von Aktivitäten des Verweilens und zum Beurteilen von Kriterien der Aufenthaltsqualität vorgestellt. Diese Arbeit wurde vom Schweizer Bundesamt für Strassen unterstützt.
Inhalt
Nach grundsätzlichen Aussagen, die die Konzeption und Durchführung von Erhebungen zum Aufenthalt betreffen, werden sieben Erhebungsverfahren mit Anwendungsbeispielen detaillierter vorgestellt. Es werden drei Zwecke dieser Verfahren unterschieden: a) die Situationsanalyse, b) das Benchmarking, also der Vergleich mit anderen Situationen bzw. zu verschiedenen Zeitpunkten, c) das „Controlling“. Letzteres dient dazu, die Auswirkungen erfolgter Umgestaltungen im öffentlichen Raum zu messen oder zu ermitteln, inwieweit die Anforderungen der Bevölkerung in einem bestimmten Raum aktuell erfüllt sind. Betont wird die starke Abhängigkeit der verschiedenen Arten und Tätigkeiten des Verweilens von den situativen Bedingungen (Wetter, Einbindung des Gebiets ins Fußwegenetz, Art der Erdgeschossnutzung etc.). Sowohl diese Aspekte als auch die Aktivitäten im öffentlichen Raum sollen möglichst genau erhoben werden. Denn in Anlehnung an William Whyte bestimmt sich die Qualität des öffentlichen Raums nach der Vielfalt der dort ausgeübten Aktivitäten sowie der Partizipation verschiedener Bevölkerungsgruppen.
Die vorgestellten Methoden werden in solche des Zählens, Beobachtens und Befragens unterschieden. Komplexere Erhebungsverfahren beinhalten zwei oder drei dieser Methoden. Bei Beobachtungen ist die Unterscheidung zwischen einer Momentaufnahme und einer Erhebung über eine bestimmte Zeitdauer hinweg (z. B. mehrere Stunden) wichtig. Momentaufnahmen, wie z.B. die Burano-Methode, das Behaviour Mapping und die beispielhaften Erhebungen am Zürcher Limmatquai, zeigen ein für diesen Moment „eingefrorenes“ Bild. Mehrere solcher Momentaufnahmen können aber über einen Tag verteilt werden, um Veränderungen zu erkennen.
Beim Erheben der Aktivitäten im öffentlichen Raum werden in der Regel standardisierte Checklisten eingesetzt. Sie dienen dazu, die Art der Aktivitäten und Interaktionen, die Anzahl der Personen und deren Standort sowie z. B. die Blick- oder die Gehrichtung festzuhalten. Solche Beobachtungs- oder Zähldaten werden oft durch Befragungen von Personen im öffentlichen Raum ergänzt, um z. B. Aussagen zur Regelmäßigkeit ausgeübter Aktivitäten im betreffenden Gebiet zu erhalten. Auf die gegebenen Umfeldbedingungen (etwa die Möglichkeiten des Sehens, Verweilens, Sitzens etc.) sind die zwölf von Gehl entwickelten Qualitätskriterien bezogen, die vor allem für Expertenbeurteilungen genutzt werden. Auch werden Begehungen durchgeführt, bei denen Personengruppen explizit die sensomotorische Qualität eines Gebiets für bestimmte Verweilpraktiken bewerten (z. B. Studie zu Grand-Places in Fribourg/CH).
Bewertung
Die Broschüre sensibilisiert für das Thema des Verweilens als Element des Zufußgehens. Sie gibt für die Konzeption entsprechender empirischer Arbeiten erste Hinweise und hilft bei der Eingrenzung der in Frage kommenden Methoden. Sie ist aber kein Handbuch für das komplette Vorgehen vom Anfang bis Ende der Erhebung. Die angegebenen Beispiele ermöglichen es zwar, sich an einzelnen Anwendungen zu orientieren. Deutlich wird aber auch, wie schwierig das Durchführen aussagekräftiger Erhebungen zu den Rahmenbedingungen und den Ausprägungen des Verweilens im öffentlichen Raum ist und wie wichtig es ist, auf diesem Gebiet mehr Erfahrungen zu gewinnen und auszutauschen.
Eine Reihe von grundsätzlichen Fragen klammert die Broschüre aus. Anders als man bei dem Titel vermuten könnte, wird z. B. die Diskussion darüber, was in welcher Situation und für wen eine gute Aufenthaltsqualität ausmacht, nicht geführt. Bei der späteren Konzeption einer Erhebung spielt diese Frage insofern eine Rolle, als sich die Wahl der Erhebungskriterien auf ein vorhandenes Verständnis von Verweil- bzw. Aufenthaltsqualität gründen muss. Zudem stellt sich die Frage, aus wessen Sicht letztlich die Qualitätsbeurteilungen vorgenommen werden. Dazu kann man sich an den vorgestellten Beispielen der von unterschiedlichen Bewertergruppen durchgeführten Erhebungen orientieren.
Titel:
Qualität von öffentlichen Räumen. Methoden zur Beurteilung der Aufenthaltsqualität. Zürich, 2015, 37 S.Verfasser:
Samuel Flükiger; Jenny Leuba
Bezug:
www.fussverkehr.ch, Fussverkehr Schweiz, Klosbachstr. 48, CH-8032 Zürich, kostenlos.
Impressum:
Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Februar 2016. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.
Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.
Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail:
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Samuel Flükiger; Jenny Leuba : Qualität von öffentlichen Räumen. Methoden zur Beurteilung der Aufenthaltsqualität. Zürich, 2015, 37 S.
86/2016 - Februar 2016 - ML 1/16