Rezension aus der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Ausgabe 87/2016

Ausgangslage

Die Planung für den Fußverkehr im Siedlungsgebiet liegt in Deutschland in der Kompetenz der Gemeinden. Die Gemeinden gehen mit dieser Planungsaufgabe offenbar sehr unterschiedlich um, wie die Diskussion einzelner Fußverkehrsthemen in den letzten Jahren erkennen ließ. Eine umfassende Beurteilung des Stands der Planung war bislang jedoch nicht möglich, da ein systematischer Überblick zu den Planungsaktivitäten der größeren Gemeinden gefehlt hat. Diese Lücke versucht eine im September 2015 fertiggestellte Diplomarbeit in Geographie an der Freien Universität Berlin zu schließen.

Inhalt

Die Arbeit gründet sich auf die Inhaltsanalyse von Planungsdokumenten aller deutschen Großstädte ab einer Größe von 150.000 Einwohnern. Insgesamt 51 Städte wurden in die Auswahl genommen. Untersucht wurden die via Internet verfügbaren Planwerke dieser Städte mit einer Relevanz für den Fußverkehr. Es handelte sich z. B. um Strategien, Verkehrsleitbilder, Verkehrskonzepte, Verkehrsentwicklungspläne sowie Stadt- oder Stadtteilentwicklungspläne. Dabei wurde betrachtet, wie die Städte planungsmethodisch mit dem Fußverkehr umgehen und welche Sachbereiche planerisch behandelt werden. Darüber hinaus wurden die Inhalte der Fachliteratur sowie die Veröffentlichungen der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen FGSV ausgewertet und die Diskussionen auf dem ersten deutschen Fußverkehrskongress von September 2014 interpretiert.

Einen zusammenfassenden Überblick zur Behandlung des Fußverkehrs in den Planungsdokumenten der Städte zeigt Anhang 1 der Arbeit, in der alle Dokumente mit Aussagen zum Fußverkehr sowie der Seitenumfang der dazugehörigen Texte zusammengestellt sind. Das Ergebnis fällt ernüchternd, um nicht zu sagen desaströs aus. Zehn Städte haben gar keine nennenswerten Planungsdokumente mit Aussagen zum Fußverkehr. Eine weitere Gruppe von Städten hat nur Dokumente, die für eine zukunftsgerichtete Planung eigentlich zu alt sind (z. B. älter als zehn Jahre). Die Mehrheit der Städte hat zwar Dokumente mit einem Bezug zum Fußverkehr, allerdings machen sie in der Regel nur sehr knappe Aussagen im Umfang von wenigen Seiten, was der Komplexität des Themas nicht gerecht wird.

Nur neun der untersuchten 51 Städte räumen dem Fußverkehr nach Ansicht des Autors einen angemessenen Stellenwert in ihrer Verkehrsplanung ein. Er unterteilt sie noch einmal in drei Gruppen und analysiert vertieft das Vorgehen und die Inhalte ihrer Planungen: Der erste Typ von Städten, zu denen Berlin, Frankfurt a. M. und Kiel gerechnet werden, hat eigene Planungsdokumente, die explizit dem Fußverkehr gewidmet sind: die Fußverkehrs­strategie in Berlin, der Handlungsleitfaden Nahmobilität in Frankfurt, die Konzepte für Fußwegeachsen und Kinderwege als Ergänzung des Verkehrsentwicklungsplans in Kiel. Der zweite Typ von Städten (Leipzig, Bonn, Braunschweig) behandelt den Fußverkehr als Teil allgemeinerer Planungsdokumente, misst ihm aber gemessen am Textumfang von 30 – 80 Seiten einen vergleichsweise hohen Stellenwert bei. Leipzig ließ als Teil des Verkehrsentwicklungsplans ein Fachgutachten Fußverkehr entwickeln. Bonn führte eine Bestandsaufnahme zum Fußverkehr durch, bestimmte Leitziele und beabsichtigt, als Zusatz zum Verkehrsentwicklungsplan eine eigene Förderstrategie Fußverkehr mit entsprechenden Qualitätsstandards festzulegen. Braunschweig ließ ein Gender Mainstreaming-Projekt explizit zur Mobilität zu Fuß für einen Stadtteil entwickeln. Es sieht eine nach Geschlechtern differenzierte Betrachtung bei allen Analysen und Konzeptionen vor. Der dritte Typ von Städten (Stuttgart, Karlsruhe, Kassel) berücksichtigt den Fußverkehr differenziert, aber nur noch mit recht geringem Textumfang von 14 bis 20 Seiten.

Insgesamt zeigt die Analyse, dass die wenigsten Städte bei der Planung des Fußverkehrs Standards verfolgen, die für die Planung des motorisierten Individualverkehrs schon lange üblich sind: ein gesamtstädtischer Planungsansatz mit einer Konkretisierung für Teilgebiete der Stadt, eine Differenzierung des Netzes nach Hierarchien oder Nutzungszwecken, eine durchgängige Orientierung der planerischen und baulichen Maßnahmen an Qualitätsstandards, eine Abstützung der Planung auf Verkehrsnachfragedaten für einzelne Gruppen von Verkehrsteilnehmenden und Daten zur Netzbelastung. Nur in einzelnen Städten wird der Fußverkehr mit einem gesamtstädtischen Ansatz geplant. Netzdifferenzierungen in Alltags- und Freizeitwegenetze oder Netze für bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. Kinderwege) finden sich eher selten. Investitionsprogramme für einzelne Elemente der Infrastruktur des Fußverkehrs, wie z. B. das Zebrastreifenprogramm in Berlin, sind im Fußverkehr eher die Ausnahme als die Regel.

Einer der Gründe für die ungünstige Situation wird in der Methodik der Planung gesehen. Verkehrsentwicklungspläne (VEP) werden als nur wenig innovativer als die früheren, den Fußverkehr weitgehend vernachlässigenden Generalverkehrspläne beurteilt. Dies zeigt sich nicht zuletzt im geringen Textumfang zum Fußverkehr in vielen der ausgewerteten VEP. Eine verkehrsmittelübergreifende integrative Planung ist immer noch selten. Sie durchzuführen wird als immer schwieriger eingeschätzt, weil die EU-Anforderungen zu Lärmminderungs- und Luftreinhalteplänen eher zu einer Vervielfältigung von sektoral ausgerichteten Plänen als zu einer integrativen Planung über die Ämterbereiche Verkehr, Umweltschutz und Stadtentwicklung hinweg führen würden. Selbst dort, wo eine Verkehrsentwicklungsplanung vorhanden ist, werde sie nur selten konsequent fortgeschrie­ben und selten einer Erfolgskontrolle unterzogen. Auch die generell fehlende Absicherung der Fußverkehrsplanung in der Finanzplanung der Gemeinden wird bemängelt. Als Ausnahmen werden Berlin und München erwähnt.

Bewertung

Die Arbeit bringt mit ihrem auf eine größere Anzahl von Städten bezogenen Untersuchungsansatz eklatante Defizite der bisherigen Fußverkehrsplanung in der Mehrzahl der deutschen Großstädte zum Vorschein. Das Vorgehen und die inhaltlichen Schwerpunkte der Planung in den genauer betrachteten neun, stärker pro Fußverkehr engagierten Städten werden detailliert wiedergegeben. Generell hätte die Darstellung der Ergebnisse von einer engeren Orientierung der Inhaltsanalysen an vorgegebenen Analysekriterien profitiert.

Titel:

Stand der Fußverkehrsplanung in Deutschland 2015. Diplomarbeit in Geographie, FU Berlin 2015, 167 S.

Verfasser:

Markus Trosien

Bezug:

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Impressum:

Erstveröffentlichung in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung, Mai 2016. Der Kritische Literaturdienst Fußverkehr Krit.Lit.Fuss erscheint seit 1992 als Beilage des InformationsDienstes Verkehr IDV und nach der Namensumbenennung ab dem Jahr 2002 vierteljährlich in der mobilogisch! Zeitschrift für Ökologie, Politik & Bewegung.

Autor dieser Ausgabe: Helmut Schad.

Herausgeber: FUSS e.V. Fachverband Fußverkehr Deutschland, Exerzierstraße 20, 13357 Berlin, Tel. 030/492 74 73, Fax 030/492 79 72, eMail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.fuss-eV.de

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