Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele
Flaniermeile Unter den Linden
Begegnen und Flanieren im Zentrum der Bundeshauptstadt
In der Fußverkehrsstrategie für Berlin (vgl. mobilogisch! 3/10, S.17-21) ist als Modellprojekt 5 die Umsetzung von drei Pilotvorhaben „Begegnungszonen“ vorgesehen. Eine davon soll in einem „Bereich mit herausgehobener touristischer Bedeutung“ umgesetzt werden. Da lag es nahe, dass sich der FUSS e.V. jetzt mit dem Vorschlag in die Findungs-Phase einbringt, Deutschlands bekannteste „Flaniermeile“ in den Abwägungsprozess einzubeziehen. Nach einem ersten Fußverkehrs-Audit ergaben sich weitere Vorschläge für Maßnahmen, die für andere Modellprojekte oder Ziele der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ stehen. Der ziemlich genau eine Meile lange Straßenabschnitt könnte ein verbindendes Projekt mit Synergie-Effekten werden.
„Die Prachtstraße Unter den Linden zählt heute zu den berühmtesten Straßen der Welt. Sie ist für Einheimische und Touristen gleichermaßen ein beliebtes Ziel: Als Flaniermeile im Herzen Berlins bietet sie weltstädtisches Flair und ein Panorama großartiger historischer Bauten.“, so oder so ähnlich steht es in zahlreichen Reiseführern. Für viele der etwa 130 Millionen Tagesbesucher pro Jahr in Berlin dürfte die Straße eher eine Ernüchterung sein. Um ihren vorauseilenden guten Ruf besser einschätzen zu können, zunächst eine geschichtliche Einordnung:
Flanieren und marschieren
Die damals unbefestigte Straße besteht seit 1527 und wurde später zum Reit- und Jagdweg erklärt. Sie war und ist noch heute die breiteste Straße Berlins und blieb mit ihrer bis zu sechsreihigen Lindenbepflanzung über Jahrhunderte der Erholung und dem Vergnügen der Berliner vorbehalten. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelte sie sich zur Prunk- und Prachtstraße der preußischen Residenz. Hier marschierte Napoleon an der Spitze seiner Garden 1806 durch das Brandenburger in Berlin ein und hier erhob sich sechs Jahre später das Volk gegen die napoleonische Unterdrückung. Die Straße Unter den Linden diente seither der Demonstration der Macht, sah Paraden, Fürstenempfänge, Bürgerkriege, ausziehende und heimkehrende Truppen und in Friedenszeiten hektische Verkehrssituationen und viele SpaziergängerInnen.
Auch im bürgerlichen Zeitalter behielt die Straße ihren Charakter als Promenade der Müßiggänger. Sie repräsentierte Preußen, und zwar sowohl das militärische, das sich im Zeughaus in aller Pracht zeigte, als auch das geistig-künstlerische, für das schon früh das erste Opernhaus der Welt außerhalb einer Schlossanlage stand. In der sogenannten Gründerzeit entwickelte sich die Straße zum eleganten, großbürgerlichen Boulevard. Doch bereits ein Jahr nach der Machtübernahme machten die Nazis aus ihr eine Aufmarschstraße. Die Mittelpromenade wurde schmaler und für schwere Fahrzeuge befestigt, die beiden Fahrdämme auf jeweils 14 Meter verbreitert und die Lindenbäume wurden abgehackt und durch Fahnenmaste ersetzt. Die Straße Unter den Linden war als Teil der 50 Kilometer langen Ost-West-Achse vorgesehen, die Berlin zur „Welthauptstadt Germania“ machen sollte. Doch sehr bald danach waren von den 64 Gebäuden, die früher einmal zwischen dem Brandenburger Tor und der Universität gestanden hatten, nach Kriegsende nur noch 13 erhalten.
Verkehrsgeschichte
Die Straße Unter den Linden hat auch eine bemerkenswerte verkehrspolitische Geschichte. Eigens für sie gab es die ersten „Verkehrs“-Regeln - z.B. „Man grüßt Se. Majestät auf der Straße durch Frontmachen…“ - und Bekleidungsvorschriften für FußgängerInnen. Die Aufenthaltsfunktion der Straße war wichtig und so konnten um 1900 auf der Mittelpromenade neben den festen Bänken zusammenklappbare Stühle gemietet werden, so dass man sich in kommunikativen Sitzgruppen positionieren konnte. Hier bekam auch die erste Konditorei die preußische Sondergenehmigung, Kaffeehaustische auf die Straße zu stellen. Unter den Linden war dann die erste Straße mit Gasbeleuchtung, hier erstrahlte erstmals elektrisches Licht in einem Restaurant und es gab das erste elektrifizierte Hotel.
Nachdem „feine Herrschaften“ vergeblich versuchten, Transportmittel auch für die „kleinen Leute“ zu verhindern, verkehrten ab 1846 hier die ersten „Doppeldecker“ (die Herren oben, die Damen unten) und ab 1905 auch die ersten motorisierten Omnibusse. An der Kreuzung Friedrichstraße regelte der erste Verkehrspolizist Preußens den Verkehr und tauschte wegen des Lärms bald seine Trillerpfeife gegen eine Trompete aus. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug übrigens 15 Stundenkilometer und man durfte bis 1928 auf beiden Straßenseiten in beide Richtungen fahren.
Die Straße Unter den Linden ist also als ein „Freizeitweg“ entstanden und wurde erst in den letzten Jahrzehnten ihrer nunmehr 485-jährigen Geschichte zu einer autobahnähnlichen Kraftfahrzeugschneise mit bis zu etwa 30.000 Fahrzeugen am Tag. Doch dürfte die Mehrheit der Touristen an dieser Stelle der Stadt noch immer zu Fuß unterwegs sein. Deshalb schlägt der FUSS e.V. vor, das durch die Nazi-Diktatur für eine innerstädtische Straße verfehlte Nutzungskonzept durch folgende Maßnahmen wieder rückgängig zu machen:
Mittelpromenade reaktivieren
Selbst in Tageszeiten mit einem verhältnismäßig geringen motorisierten Verkehrsaufkommen ist ein unbekümmertes Spazierengehen nicht möglich. Das liegt hauptsächlich an den sechs Unterbrechungen durch Querstraßen mit teilweise sehr geringem Kraftfahrzeugverkehr, die damit auch den knapp einen Kilometer langen Mittelstreifen unterteilen. Deshalb wird vorgeschlagen, durch die Herstellung niveaugleicher Gehwegüberfahrten, zumindest aber durch Teilaufpflasterungen, die Promenade aus der Sicht der Fußgänger optisch und auch verkehrsrechtlich zusammenzufügen, ohne die Straßenstruktur wesentlich zu beeinflussen. Darüber hinaus sollten Fußverkehrs-Audits an allen Querungsstellen durchgeführt werden, damit ein Wechsel der Straßenseiten und das Erreichen der Mittelpromenade für Fußgänger sicherer und komfortabler wird.
Licht für die Fußgänger
Nachdem die Nazis die an Kettenzügen über der Mittelpromenade hängenden Lampen entfernten, befinden sich heute an den Rändern diffuse Leuchtstäbe, die direkt am Fahrstreifen leuchten, den Fußgängern aber wenig nutzen. Auch in den Seitenbereichen werden fast durchgängig nicht die Gehwege, sondern die Pkw-Parkstreifen und Fahrradabstellanlagen beleuchtet. Deshalb gibt es an Straßenabschnitten ohne Schaufenster „Dunkelzonen“, wie sie ein großstädtischer Boulevard nicht haben dürfte. Es sollte also geprüft werden, in wie weit eine Verdrehung der Leuchten in den Seitenbereichen möglich ist oder ob gesonderte Beleuchtungseinrichtungen für die Fußwege anzubringen sind. Darüber hinaus ist durch Fußgänger-Audits festzustellen, ob durch die derzeitige schlechte Ausleuchtung der Querungsstellen die Fußgängerinnen und Fußgänger bei Dunkelheit erkennbar sind.
Fußwege vernetzen
Eine Flaniermeile Unter den Linden muss mit den anliegenden Fußverkehrsflächen vernetzt werden. So müssen die Mittelpromenade und die beiden seitlichen Gehwege an den Fußgängerbereich am Brandenburger Tor angebunden werden. Auf der anderen Seite der Flaniermeile muss das touristisch relevante Nikolai-Viertel (Berliner Altstadt) sicher und komfortabel über den „Spreeweg“ (Grüner Hauptweg Nr. 01) erreichbar sein. Stadt der von den Nazis geplanten überdimensionierten Stadtautobahn gäbe es dann eine West-Ost-Achse für Fußgänger und Flaneure.
Fazit
Wenn sich Berlin nicht nur als eine Stadt mit Flanier-Tradition, sondern auch aktuell als Stadt des Spazierengehens und Flanierens präsentieren möchte, muss die Straße Unter den Linden aufgewertet werden. Als einer der ersten Schritte wird empfohlen, die im Jahr 1934 vorgenommene Umgestaltung der Straße vom Boulevard zur Aufmarsch- und Kraftfahrzeugstraße, verbunden mit einer Abwertung der Mittelpromenade und Verbreiterung der Kraftfahrzeugflächen, schrittweise wieder rückgängig zu machen. Die Kosten für die vom FUSS e.V. vorgeschlagenen Maßnahmen sind verhältnismäßig gering, die Signalwirkung wäre dagegen über Berlins Grenzen hinaus erheblich.
In Kürze
In einer 27-seitigen Studie stellt der FUSS e.V. die wechselhafte Geschichte der über Deutschland hinaus bekanntesten Straße Unter den Linden als Verkehrsader, Aufmarschstraße und Flaniermeile dar, lässt Poeten und Schriftsteller ihre Eindrücke schildern und kommt zu dem Schluss, dass der Ruhm aus alten Zeiten stammt. Doch bietet die Beschlusslage zur „Fußverkehrsstrategie“ beste Grundlagen dafür, zukünftig wieder mehr Lebensqualität in diesen Straßenzug zu bekommen.
Begegnungszone
Es wird empfohlen, zumindest auf einer Teilstrecke eine „Begegnungszone“ für alle VerkehrsteilnehmerInnen einzurichten, in der nach dem Vorbild der Regelungen in der Schweiz, Frankreich und Belgien die Fußgänger Vorrang haben. Als Modell für diese Maßnahme könnte der Opernplatz in Duisburg stehen. Das Instrumentarium zielt ausdrücklich auf die Einbeziehung von Hauptverkehrsstraßen und ist deshalb bekanntlich trotz der Unterstützung durch VerkehrswissenschaftlerInnen und –verbände in Deutschland noch nicht in der Straßenverkehrs-Ordnung verankert. Deshalb wird ein Modellvorhaben nach §46 StVO vorgeschlagen, mit dem französischen Zeichen für die Verkehrsberuhigung und mit Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h. Für den Linienbusverkehr sollen allerdings zwei Richtungsfahrbahnen erhalten bleiben. Damit soll der zentrale Bereich der Straße Unter den Linden verkehrsberuhigt und weitestgehend vom schnellen Autoverkehr entlastet werden.
Info:
Die Studie finden Sie unter www.flaniermeile-berlin.de und detaillierte Quellenangaben in der PDF-Version im Download-Bereich.
Informationen über die Fußverkehrsstrategie finden Sie unter www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/fussgaenger/strategie/index.shtml.
Den besten Überblick über die Regularien zur Verkehrsberuhigung bietet die Website www.strassen-fuer-alle.de.
Wer sich über die Aktivitäten des FUSS e.V. in der Bundeshauptstadt einen Überblick verschaffen möchte, findet diesen unter www.berlin-zu-fuss.info.
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2012, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.
Fußverkehrsstrategie für Berlin
Ein Bundesweit bemerkenswertes Modellvorhaben
In der Bundeshauptstadt hat sich der Anteil der Fahrradwege in den letzten Jahren auf 13 % und der Wege zu Fuß sogar auf 30 % erhöht, während sich der Anteil mit motorisierten Verkehrsmitteln (MIV) auf ca. 31 % vermindert hat (Modal Split 2008). Möglicherweise wird der Fußverkehr in diesem Jahr den MIV als Spitzenreiter ablösen. Ein Anlass mehr, um darüber nachzudenken, wie der Fußverkehr weiterhin gestärkt und Berlin zumindest Deutschlands „Fußgängerhauptstadt“ werden kann. In Europa wetteifern ja bereits andere Städte wie z.B. London oder Kopenhagen um diesen Titel, wohl noch eine Nasenlänge voraus. Berlin will diese Städte nicht „überholen“, ohne sie vorher „eingeholt“ zu haben, deshalb braucht alles seine Zeit. Es folgt ein Zwischenbericht.
Wohin der Weg führen soll
Im Erläuterungsbericht des 1994 beschlossenen Berliner Flächennutzungsplans wurde die Vision eines „stadtverträglichen Verkehrs“ mit „gleichwertigen Mobilitätschancen“ daran festgemacht, dass alle Bevölkerungsgruppen ohne Auto ihre Ziele in der Stadt in vergleichbaren Zeiträumen problemlos erreichen. „Nicht notwendiger Verkehr soll durch eine Stadtstruktur der kurzen Wege reduziert, der Anteil der umweltfreundlichen Verkehrsmittel durch ein leistungsfähiges Angebot im öffentlichen Verkehr und attraktive Wegenetze für Fußgänger und Radfahrer erhöht werden...“.
Im Jahr 2003, inzwischen waren alle Stadtteile von allen Bürgern begeh- und befahrbar, beschloss der Senat den „Stadtentwicklungsplan Verkehr“. Auch in dieser strategischen Leitlinie der künftigen Verkehrspolitik ist als Leitbild die „Stadt der kurzen Wege“ definiert, in der „die Mobilität im Nahbereich ... durch überall günstige Bedingungen für Fußgänger und Radfahrer“ erleichtert werden soll. Beim Fußgängerverkehr werden Steigerungspotenziale gesehen, „wenn Sicherheit, Bequemlichkeit und Attraktivität der öffentlichen Räume erhöht werden“. In der „Teilstrategie Innere Stadt“ wird das Ziel formuliert, „durch Entlastung vom motorisierten Individualverkehr dem Fußgängerverkehr mehr Platz zu geben und die Bedingungen des Fußgängerverkehrs zu verbessern: durch ausreichend breite Gehwege, eine bessere Wegweisung und verbesserte Querungsmöglichkeiten von Hauptverkehrsstraßen.“
Im Maßnahmenkatalog ist die Weiterentwicklung und Umsetzung der Konzeption für ein fußgängerfreundliches Berlin näher ausgeführt, einschließlich der Benennung der prioritären Orte und Maßnahmen (Verbesserung der Bedingungen für den Fußverkehr insbesondere durch Verbesserung der Querungsmöglichkeiten an Hauptverkehrsstraßen / Erhöhung der Verkehrssicherheit, Verbesserung der Wegweisung, Verbesserung der Aufenthaltsqualität).
Fachbeirat und Selbstschulung
Ende September 2009 wurde durch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das Beratungsgremium „Berlin zu Fuß“ konstituiert. Berufen wurden zwanzig Mitglieder, darunter z.B. Prof. Dr. Rolf Monheim Uni Bayreuth, Michael Adler Fairkehr GmbH, Martin Schlegel vom BUND-Berlin, Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, der Polizei, des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, der Landesseniorenbeirat, der Behindertenbeauftragte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senatsverwaltungen und aus den Bezirken, sowie der zum Sprecher des Beirates gewählte Vertreter des FUSS e.V. (Autor). Die Mitglieder und weitere Gäste und Referentinnen und Referenten trafen sich bis Anfang Mai 2010 zu vier weiteren Tagessitzungen. Die Moderation lag bei Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Spath & Nagel. Geleitet und aktiv unterstützt wurde das Gremium vom Abteilungsleiter (Verkehr) Dr. Friedemann Kunst, dem Referatsleiter (Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik, Verkehrsentwicklungsplanung) Burkhard Horn, dem Referatsleiter (Planung und Gestaltung von Straßen und Plätzen) Heribert Guggenthaler und nicht zuletzt durch den für den Fußverkehr zuständigen Mitarbeiter Horst Wohlfahrth von Alm.
Mitte Dezember 2009 führte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zum Thema „Begegnungszonen“ ein zusätzliches Workshop durch. Darüber hinaus fand Mitte April 2010 ein Experten-Workshop zum Thema „Berlin – Hauptstadt der Fußgänger!“ statt, an der drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung, der Beirats-Moderator, sowie 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. teilnahmen, einem durch Hanna Schlagk moderiertem Brainstorming. Ziel der Gesamtheit dieser Veranstaltungen war die „Beratung bei der Entwicklung einer Fußverkehrsstrategie für Berlin“ (Einladungsschreiben der Staatssekretärin Maria Krautzberger, 21.7.2009).
Das Verfahren entwickelte sich schnell zu dem wohl bisher umfangreichsten Fachseminar in Deutschland über Fußverkehrsfragen und war dank der einleitenden Grundlagen durch die Moderation von vorne herein ergebnisoffen und thematisch breit angelegt. Der Bogen spannte sich über Themenschwerpunkte wie „Infrastruktur für den Fußverkehr“, „Netzzusammenhänge“, „Gesundheit und Sicherheit“ zu „Information und Kommunikation“. Behandelt wurden neben den im Zusammenhang mit dem Fußverkehr zu erwartenden Themen wie z.B. „Querungsanlagen“, „Erreichbarkeit von Haltestellen“, „Verkehrssicherheit“, „Zu Fuß zur Schule“ oder „Wegweisungen“ auch nicht so häufig diskutierte Themen wie z.B. „soziale Sicherheit“, „Beleuchtung“, „Sitzgelegenheiten“ und „Fußgängerstadtpläne“. Durch die Fachreferenten aus Berlin, anderen deutschen Städten und der Schweiz und die sehr intensiven und kompakten Diskussionen waren die Beiratssitzungen für alle Beteiligten gleichzeitig Innovation und Lernprozess. Dies wurde berücksichtigt durch die Aufnahme eines „Weiterbildungsangebot(es) für Mitarbeiter zum Thema Fußverkehr“ und die Verpflichtung zu einer „Koordination und Abstimmung der beschlossenen Maßnahmen innerhalb der öffentlichen Verwaltung“ in die Umsetzungsstrategie.
In der letzten Sitzung wurde der durch die Moderation kontinuierlich ergänzte Entwurf einer „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ noch einmal durchgehend im Zusammenhang diskutiert und es wurden die Schwerpunkte für mögliche Modellvorhaben festgelegt. Dieser Entwurf wird nun dem Senat und dem Rat der Bürgermeister als Beschlussfassung vorgelegt. Der Beirat „Berlin zu Fuß“ soll das Verfahren durch jährliche Sitzungen „nachsteuernd“ begleiten, die vertretenen Akteure an der Umsetzung der Strategie mitwirken.
Ziele und Leitlinien
Der noch nicht beschlossene Entwurf enthält eine sehr gute Zusammenstellung der Argumente für die Förderung des Fußverkehrs, eine auf die Sachbereiche verteilte Analyse der bestehenden Bedingungen für Fußgänger in der Stadt und darauf aufbauend zahlreiche zum Teil sehr differenzierte Maßnahmenvorschläge für alle Politik- und Verwaltungsebenen. Unabhängig von den noch möglichen Änderungen im Abstimmungsprozess lassen sich aber bereits beispielhaft die drei strategischen Ziele benennen:
- Steigerung der Nutzerzufriedenheit: 2011 soll „eine Methodik zur Bestimmung der Zufriedenheit unterschiedlicher Nutzergruppen… entwickelt und eine Ausgangsbefragung durchgeführt“ werden. Bis 2016 soll der Anteil „zufrieden oder sehr zufrieden… um mindestens 10 % gesteigert werden.“
- Senkung der Unfallzahlen: „Die Zahl der im Straßenverkehr getöteten oder schwer verletzten Fußgänger soll (gegenüber 2009) bis 2016 um mindestens 20 % reduziert werden.“
- Barrierefreie öffentliche Räume: „Bis 2010 sollen alle wesentlichen Fußverkehrsverbindungen und Gehwege an Einmündungen und Kreuzungen … barrierefrei nutzbar sein.“ Mit diesem Ziel wären z.B. weit über ¼ aller Maßnahmenvorschläge aus dem Projekt „Querungsanlagen im Verlauf der 20 Grünen Hauptwege in Berlin“ zu erledigen (vgl. Beitrag „Fußverkehrs-Audit in der Bundeshauptstadt“).
„Voraussetzung für eine effiziente Umsetzung dieser Ziele sind insbesondere folgende Schritte:“
- „Der Anteil der Ausgaben für den Fußverkehr am Verkehrsetat Berlins (soll) schrittweise erhöht (werden), um längerfristig ein Volumen zu erreichen, das seinem Anteil am Gesamtverkehr gerecht wird (Orientierung: 3 Euro pro Einwohner jährlich für speziell auf den Fußverkehr ausgerichtete Programme und Projekte)“, das entspricht etwa 10 Mio. Euro im Haushaltsjahr.
- In der Fußverkehrsstrategie werden zehn Modellprojekte benannt, die spätestens 2012 begonnen und bis 2016 umgesetzt sein sollen, wobei von einem „geschätzten Kostenvolumen von rund 2 Mio. Euro für alle 10 Projekte (d.h. 500 Tsd. Euro/Jahr)“ ausgegangen wird.
- Es wird festgestellt, dass „Sichtbarrieren wie hohe Hecken, geschlossene Erdgeschosse, mit Werbung zugeklebte oder durch Jalousien verschlossene Fenster“ auf Fußgänger demotivierend wirken und deshalb „Bezirke und Senat … im Rahmen der Bauleitplanung sowie von Bauberatung und Baugenehmigungsverfahren und bei ihren eigenen Vorhaben darauf hin(wirken), dass eine straßenzugewandte Bebauung mit gut erreichbaren Zugängen und möglichst vielfältigen und publikumsorientierten Erdgeschossnutzungen realisiert…wird.“
- Im gleichen Sinne werden „die Bezirke und die Senatsverwaltung… bei der Aufstellung von Bebauungsplänen und der Prüfung und Genehmigung von Vorhaben darauf hinwirken, dass … (Einzelhandelsstandorte, Einkaufsstraßen und Zentren) für Fußgänger auf kurzen, sicheren und attraktiven Wegen erreichbar sind und optimal in die örtlichen Fußgängernetze integriert werden.“
- Sehr intensiv diskutiert wurden „Routen und Netze für den Fußverkehr“, die nach Auffassung der Beiratsmitglieder neben den Gehwegen „für den Fußverkehr von herausragender Bedeutung sind“ und für die Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung des Fußverkehrs auf Freizeit- und Alltagswegen genutzt werden sollen. Darüber hinaus sind „bei Netzplanungen … Umwege zu erfassen und Möglichkeiten einer Abkürzung (z.B. über Kleingartenwege, Blockdurchwegungen…) zu prüfen.“
- Trotz des „im Vergleich mit anderen Städten überwiegend … guten Qualitätsstandard(s)“ der berliner Gehwege und des hohen Standards der Ausführungsvorschriften soll „eine Planungshilfe für die Durchführung von teilräumlichen Schwachstellenanalysen (Fußverkehrs-Audis)“ erarbeitet und in einem Beispielraum getestet werden. „Gefahrenpunkte im vorhandenen Fußverkehrsnetz (sind) – auch unabhängig vom Unfallaufkommen – zu identifizieren und geeignete Maßnahmenvorschläge zu entwickeln.“
- Lichtsignalanlagen wurden im Verhältnis zu anderen Themenstellungen im Beirat recht zurückhaltend diskutiert. Es sollen drei Pilotprojekte umgesetzt werden, zur „Erhöhung von Sicherheit, Komfort und Klarheit sowie der Beschleunigung des Fußverkehrs (direkte Überquerung im Wegeverlauf, Reduzierung der Querungsweiten, fußgängerfreundliche Signalschaltungen).“ Das gemeinsam vom BUND und FUSS e.V. eingebrachte Positionspapier „Fußgängerfreundliche LSA-Schaltungen in Berlin“ soll bei der Präzisierung der Pilotprojekte herangezogen werden.
- Um gleichzeitig Fuß- und Radverkehr zu fördern, sollen „mit Vorrang Lösungen zur Führung des Radverkehrs außerhalb der Bewegungsräume des Fußverkehrs“ verfolgt werden. Dies soll auch auf die Bereitstellung von Fahrradabstellmöglichkeiten zutreffen, die nötigenfalls im Fahrbahnbereich anzuordnen sind.
- Beschleunigungsmaßnahmen im öffentlichen Personennahverkehr ÖPNV sollen „den Umweltverbund insgesamt im Fokus … haben…. Bei Maßnahmen an Lichtsignalanlagen zur Beschleunigung (des ÖPNV) sind die Auswirkungen auf die Belange des Fußverkehrs sorgfältig abzuwägen.“ Darüber hinaus sind „die Zuwege zu den Haltestellen … fußgängerfreundlich, umwege- und barrierefrei zu gestalten.“
- „Berlin will sich beim Bund dafür einsetzen, die Begegnungszone oder eine ähnliche verkehrliche Regelungsmöglichkeit in der Straßenverkehrsordnung zu verankern“ und will entsprechende Pilotprojekte fördern. „Im untergeordneten Netz, in dem i.d.R. (bereits) Tempo 30 gilt, werden die Bezirke für Straßen mit besonderen Anforderungen für den Fußverkehr Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 20 km/h bzw. 10 km/h prüfen.“
- Die zitierte „Fußverkehrsstrategie für Berlin, Spath+Nagel (Hrsg.), im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Abt. VIIB, Stand 6.5.2010“ ist aufgrund des laufenden Beschlussverfahrens nicht veröffentlicht.
- Bei Interesse: www.stadtentwicklung.berlin.de > Verkehr > Verkehrspolitik und Verkehrsplanung > Fußgängerverkehr > z.B. Beispiele aus der Praxis
- Die Auswertung des Workshops finden Sie unter fuss-ev.de > Themen > Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele > Berlin-Hauptstadt der Fußgänger!
Die Finanzierung der Umsetzung der Fußverkehrsstrategie fußt auf einem laufenden (Fußgängerüberwege-Programm) und drei neuen Bausteinen: 10 Modellprojekte, Programm „Barrierefreie öffentliche Räume“ und eine Verstetigung von Förderprojekten zum Fußverkehr ab 2017.
Handlungsfelder und Maßnahmenbereiche
Neben den in einer Fußverkehrsstrategie zu erwartenden allgemeinen Aussagen wie z.B. „Stadt der kurzen Wege“, „ausreichend häufige, bedarfsgerechte, kurze und sichere Querungsmöglichkeiten über die Fahrbahnen des Autoverkehrs“ usw. sollen folgend nur einige wenige weitere Maßnahmenbereiche erwähnt werden:
Fazit
Die in der „Fußverkehrsstrategie für Berlin“ enthaltenen Maßnahmen und Modellvorhaben sind für ein Programm einer deutschen Kommune bahnbrechend; sie werden bei Umsetzung dennoch nicht flächendeckend die gesamte Stadt fußgängerfreundlicher machen. Sie können allerdings das Klima wesentlich verbessern und Merkpunkte setzen, an denen das Thema „Umweltverbund“ weiter diskutiert werden kann. Bekanntlich sind auch verkehrspolitische Entwicklungen und Weichenstellungen von personellen Besetzungen und Zusammensetzungen abhängig. In der Berliner Verwaltung sind diese zurzeit so „fußgängerfreundlich“ wie nie zuvor. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der Wille seitens aller Beteiligten ist glaubhaft, wird aber immer wieder – verwaltungsintern und in der öffentlichen Diskussion - auf dem Prüfstand stehen. FUSS e.V. will weiterhin kontinuierlich und konstruktiv mitwirken, nicht zuletzt auch wegen der erhofften Ausstrahlung dieses Modellprojektes auf andere Kommunen in Deutschland.
In Kürze
Nach der Radverkehrsstrategie wird in Berlin, wie vom Senat bereits vor sieben Jahren beschlossen, eine Fußverkehrsstrategie auf den Weg gebracht. Die in der noch nicht öffentlich vorliegenden Fassung enthaltenen programmatischen Aussagen stehen „unter dem übergeordneten Ziel einer stadt-, sozial- und umweltverträglichen, gesunden, sicheren und ökonomisch effizienten Bedienung der städtischen Mobilitätsbedürfnisse“. Die damit verbundene Kommunikationsstrategie soll „ein Verkehrsklima schaffen, das den Fußverkehr als selbstverständlichen und gleichberechtigten Bestandteil der städtischen Mobilität begreift und begünstigt.“
Info:
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.
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Berlin Hauptstadt der Fußgänger!
Experten-Workshop im Rahmen des Beirats „Berlin zu Fuß“
am 16. April 2010, 14:00-17:30 Uhr im „Rittersaal“ in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin
Der Experten-Workshop bestand aus
- einer Einführung über die Fußverkehrspolitik des Landes Berlin durch Herrn Heribert Guggenthaler von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin,
- einer Erläuterung der Vorgehensweise im Beirat „Berlin zu Fuß“ zur Erarbeitung einer Fußverkehrs-Strategie durch Herrn Christian Spath vom Büro für Städtebau und Stadtforschung Berlin,
- einer kurzen Begrüßung durch den Vorsitzenden des FUSS e.V. Fachverbandes Fußverkehr Deutschland Arndt Schwab aus Koblenz und
- einer methodenunterstützten Ideensammlung mit einer anschließenden gemeinsamen Erläuterung und punktuellen Diskussion, moderiert durch die Trainerin für Soziales Lernen, Kommunikation und Konfliktbearbeitung Hanna Schlagk aus Potsdam.
- Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren 14 Mitglieder des Bundesvorstandes des FUSS e.V. aus 11 verschiedenen Städten in Deutschland und der Schweiz, drei Mitarbeiter der Senatsverwaltung sowie der Moderator des Beirates „Berlin zu Fuß“.
Die etwa insgesamt 75-minütige Ideensammlung erfolgte vierstufig, beginnend mit Notizen aller Teilnehmer/innen, in Zweiergesprächen, in Vierer-Gruppen und zuletzt im Plenum. Angeregt wurden die Teilnehmer/innen durch Fragestellungen allgemeiner Art über ihre Erfahrungen aus Heimat- und bereisten Städten hinsichtlich ihrer Fußgängerfreundlichkeit (1) und in einer zweiten Phase durch eine zufällig „gezogene“ Rollenübernahme von Fußgängern verschiedenen Geschlechts und Alters, mit unterschiedlichen örtlichen Zielen, Interessen oder auch Beeinträchtigungen (2). Diese Phase der freien Äußerungen, wie sich die Teilnehmer/innen im Idealfall eine Fußgängerstadt vorstellen, welche Randbedingungen dabei wichtig sind und welche Anforderungen sich aus der übernommenen Rolle ergeben würden, erbrachten insgesamt etwa 240 Hinweise.
Im abschließenden 45-minütigen Plenum wurden Wiederholungen an der Pinnwand doppelt gesteckt und die Karten nach Gebieten grob sortiert. Assoziative Formulierungen und kurze Stichworte wurden erläutert und teilweise diskutiert. Auf eine weitere Arbeitsphase zur Beurteilung der Umsetzungsmöglichkeiten der Vorschläge musste aus Zeitgründen verzichtet werden.
Zur besseren allgemeinen Verständlichkeit und der einfacheren Verwertbarkeit der Aussagen wurden die Stichworte und Sätze nach dem Workshop noch einmal gekürzt, soweit notwendig erläutert und in kleinere Themengruppen zusammengefasst. Bei der folgenden Zusammenstellung der Ergebnisse ist zu beachten, dass sich die Aussagen auf verschiedene Fragestellungen im Verlaufe der Ideensammlung beziehen.
Zusammengefasste Zielfrage des Workshops: Welche Aspekte und Details sind den als Vorstandsmitglieder der Fußgängerlobby „bewußteren“ Fußgängerinnen und Fußgängern besonders wichtig, wenn es darum geht, in der Stadt verkehrssicher, gesund und angenehm gehen zu können.
Fußgängerstadt = lebenswerte + liebenswerte Stadt (Eckpunkte)
- Kompakte Stadtstruktur = Geringe Entfernung zu den Zielen, Stadt der kurzen Wege mit dichter Nahversorgung und zahlreichen kleinen Unterzentren, die Architekten achten auf die Außenwirkung von Gebäuden aus der Kopfhöhe
- Fahrstreifen- und Fahrstreifenbreitenverringerungs-Programm
- Viele Straßencafés und Geschäftsauslagen in Einkaufsstraßen, Obstverkäufer an Straßenecken usw.
- Öffentlicher Raum ohne Motorlärm und guter Luft, aber mit viel Verkehr durch Menschenkraft
- Platz und Plätze Aufenthalt, fürs Zufußgehen und für „Sondernutzungen“, Stadtmusikanten, Künstler, Gesprächsgruppen
- Kein Zwang zur ständigen Aufmerksamkeit durch sichere und komfortable Fußverkehrsanlagen
- Kinder dürfen die Straße zum Spielen nutzen, es gibt interessante öffentliche Räume und der Schulweg zu Fuß macht Spaß
- Viel Grün im Straßenraum, Vorgärten, Baumscheibenbepflanzungen
- Übersichtlichkeit und Einblicke gewähren, d.h. keine unnötigen Sichtbehinderungen durch hohe Hecken, Straßenmöblierung, die Häuser sind zur Straße hin offen (Fenster)
- Wege sind abwechslungsreich gestaltet, aber störende Elemente (Barrieren) sind entfernt
- Geringer MIV-Bedarf, natürlich ist Tempo 30 die Höchstgeschwindigkeit, es gibt zahlreiche Bereiche und Zonen mit geringerer Höchstgeschwindigkeit, Verkehrsberuhigten Bereichen, Begegnungszonen
- Querungsanlagen sind weniger Ampeln, sondern ein enges System von Zebrastreifen, Gehwegnasen, Fahrbahnmarkierungen, etc. (vgl. Shared Space)
Keine Übertreibung bei der Stadtinszenierung, es muss nicht jede Ecke planerisch bedacht sein, durchaus auch Brachflächen mit Gerümpel zulassen und mehr geheimnisvolle Ecken
Bei jeder MIV-Verkehrsplanung muss grundsätzlich überdacht werden, welche Auswirkungen sie auf den Fußverkehr haben könnten
Fuß-, Rad- und ÖV-Verkehr beschleunigen + MIV entschleunigen
- Fußgänger wollen gehen und freiwillig stehen bleiben, aber nicht ständig stehen bleiben müssen, d.h. tote Wartezeiten durch Fußgängerstaus an Engpässen im Wegesystem und an nicht optimierten Signalanlagen müssen reduziert werden (Fußverkehrs-Beschleunigungs-Programm)
- Abbau gängelnder Barrieren, keine Poller in der Mitte des Weges
- Entwicklung einer konkreten Zielvorgabe für die Einrichtung weiterer „Spielstraßen“ (Verkehrsberuhigter Bereich Zeichen 325/326 StVO)
- Sichere und zügige Erreichbarkeit der Haltestellen ist wichtiger als ÖV-Beschleunigung, schließt sich aber gegenseitig nicht aus
- Generell in der Stadt zulässige Höchstgeschwindigkeit unter oder max 30 km/h mit enggefassten Ausnahmeregelungen
Klimawandel im Verkehrsgeschehen
- Soziales Verhalten befördern, als Fußgänger (auch) ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln und nicht immer nur Verständnis haben für Radfahrer, Motorradfahrer, Autofahrer
- Generell mehr Rücksichtnahme gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern (z.B. Skandinavien)
- Verstärkung der Fußgängerproblematik in Fahrschulen
- Stärkere Ahndung illegal abgestellter Fahrzeuge
- Kein Naßspritzen durch Autos, die durch Pfützen sausen
- Flexible Straßensperrungen zugunsten des Fußgängeraufenthaltes, z.B. Montags x-Straße, Dienstag Y-Straße, etc. zum Erproben neuer Lebensqualitäten
Wissen um die Belange der Fußgänger stärken
- Kontinuierliche und intensive Schulung von Mitarbeitern aller relevanten Stellen in den Verwaltungen
- Fußverkehrs-Auditierung (Sicherheit + Komfort) von Gehwegen, Gehwegnetzen und Querungsanlagen im Bestand
- Psycholgische Fehlstellenanalyse und Qualitätserfassung von Routen zu Fuß durch die Stadt (vgl. Ravensburg, Baden-Württemberg)
- Ansprechpartner für Bürger = Ombudsmann
- Einhaltung der Regelwerke durch Fachaufsicht durchsetzen, Abwägungsprozesse im Trend Zugunsten des Fußverkehrs (vgl. Baugesetzbuch 1986)
Gehwege und Plätze für Menschen
- Nutzungsvielfalt beachten (Kinder zu Fuß/mit dem Rad, Senioren, Mobilitätsbehinderte mit Stock, Rollator, Rollstuhl, etc.) und unterschiedliche Nutzungen fördern (schnell Gehen, Flanieren, Sitzen, etc.)
- Breite Seitenbereiche, gegliedert mit Vorgärten und Straßenbäumen, keine störende Möblierung
- Platz zum Schnellgehen und Überholen, Seitenspuren langsam und stehen (Berliner Weg) und dennoch möglichst kein Einheitstyp in der Gestaltung der Gehwege
- Kein Gehwegparken oder zumindest Umsetzung der VwV-StVO zum Gehwegparken
- Autobahngeeignete Verkehrszeichen für den Kraftfahrzeugverkehr von Gehwegen entfernen und in kleinerer Form im Bereich der Parkstreifen aufstellen
- Grundsätzliche Anordnung: Keine Schilder „Gehwegschaden“ (Berliner Bezirke), sondern Behebung der Mängel, Begeher und Meldewesen für Schlaglöcher auf Gehwegen, Verkehrssicherungspflicht
- Gehwege müssen bei jeder Witterung benutzt werden können, Belag muss auch bei Feuchtigkeit und Schnee trittsicher bleiben
- Förderung überdachter Fußwege (England, Neuseeland), evtl. Markisen, Arkaden im Einzelhandelsbereichen
- Gestreute Fußwege auch auf nicht an Privatgrundstücke grenzende Flächen gewährleisten
- Gute Beleuchtung für die unbeleuchteten Verkehrsteilnehmer
- Berücksichtigung der Fußgängerströme auch an Baustellen sowie ggf. Umleitungsbeschilderung in Baustellenbereichen
- Plätze sind nicht Restflächen der Fahrbahnführung (vgl. Ernst-Reuter-Platz, Berlin), sie sollen das Gehen nicht verhindern, sondern fördern, man muss sie frei queren können
Routen und Netze für Fußgänger
- Breites Hauptwegenetz zum unbehinderten Nebeneinandergehen, Platz auf Kosten von Parken oder überbreite Fahrstreifen schaffen, Fahrstreifenbreitenverminderungs-Programm
- Abkürzungen durch Innenhöfe etc. anzeigen, Wege durch Grundstücke sind zu dulden (vgl. Wanderwege per Waldgesetz) = Eigentum verpflichtet zur Sozialität
- Interessante Themen-Wegeverbindungen für Bewohner und Gäste schaffen (z.B. „Verlobtenweg“, Worpswede)
- Mittelinseln in Alleen fußverkehrsgerecht über die Querstraßen führen
- Leuchtende Leitlinien auf wichtigen Routen
Qualität von Querungen = Indikator für Fußgängerfreundlichkeit
- Die Wegeführung muss im Bereich von Kreuzungen und Einmündungen eindeutig erkennbar sein (schlechte Beispiele sind z.B. in Potsdam zu besichtigen)
- Eine kindgerechte Übersichtlichkeit würde auch allen anderen Verkehrsteilnehmern nutzen (in die Hocke gehen)
- Querungsstellen müssen insbesondere an Stellen, an denen Autofahrer nicht mit Fußgängern rechnen, aus der Windschutzscheibenperspektive sehr deutlich erkennbar sein (insbesondere an Ausfallstraßen, Straßen durch Waldstücke oder Grünanalgen, etc.)
- Querungsstellen müssen im direkten Wegeverlauf liegen, d.h. in Kreuzungsbereichen und Einmündungen sollte es grundsätzlich keine zurückversetzen Querungsanlagen geben
- So viel wie möglich Gehwegüberfahrten und Teilaufpflasterungen einsetzen
- Eckausrundungen über 1 Meter Durchmesser werden abgeschafft durch bauliche oder markierte Gehwegvorstreckungen zu Fußverkehrsflächen (Aufstellflächen)
- Es sind ausreichend große Aufstell- bzw. Warteflächen mit Blickkontaktmöglichkeit zu Kraftfahrer/innen vorzusehen
- Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln werden die Querungs-Wegelängen auf dem Fahrbahnniveau verkürzt (z.B. Gehwegvorstreckungen, Mittelinseln, Mittelstreifen)
- 5-Meter-Bereiche werden konsequent von parkenden Kraftfahrzeugen freigehalten, das Falschparken ist kein „Kavaliersdelikt“, sondern eine rücksichtslose Gefährdung und Behinderung von Fußgängern
- Bei erhöhtem Fußverkehrsaufkommen sind überbreite Furten (an LSA) und Fußgängerüberwege auszubilden, um Überholen zu ermöglichen und Staus durch entgegen kommende Fußgänger zu vermindern
- Grundsätzlich sollten Parkstreifen und Parkstände in sehr kurzen Abständen durch bauliche oder zumindest markierte Gehwegvorstreckungen unterbrochen werden
- Anzustreben ist, dass Fußgänger möglichst überall queren können z.B. durchgehend Mittelstreifen in Hauptverkehrsstraßen (z.B. Hauptstraße, Schöneberg)
- Fußgängersperrgitter sind grundsätzlich durch wirksamere Maßnahmen zu ersetzen
- Bordsteinabsenkungen müssen an allen vorgegebenen Querungsstellen vorhanden sein, Rillenplatten insbesondere dort, wo Fußgänger – und nicht nur Sehbehinderte – nicht mit einer Fahrbahnquerung rechnen
- Shared Space sollte an den Überlagerungsstellen von Fuß- und Fahrverkehr (auch Radverkehr) in die Überlegungen einbezogen werden
Ampeln-Anzahl reduzieren + den Rest prüfen und verbessern
- Kontinuierlicher Ersatz von Fußgängersignalanlagen durch Zebrastreifen
- Furten an allen Ästen eines Knotens
- Ausreichend große Aufstellflächen vor Ampeln (Warteflächen)
- LSA-Optimierung nach Verkehrsbedarf durch den Autoverkehr in deutlich kürzeren Abständen, bei gleichzeitiger kurzer Umlaufzeit und abgesichterten Mindest-Grünzeiten für Fußgänger auch bei starkem Kraftfahrzeugverkehr, evtl. Kfz-Durchlasszahlen nach „Delfter Modell“ optimieren
- Dunkelstellung, d.h. Autoverkehr hat nicht grundsätzlich grün und bekommt rot bei Anforderung durch Fußgänger
- Zumindest an zahlreichen engeren Knotenpunkten sind endlich Konfliktfreie Ampelschaltung einzurichten (getrenntes Abbiegen, Rundum-Grün, evtl. sogar Diagonalquerung)
- Fußgänger bekommen pro Umlauf stets Grün, keine „Bettelampeln“
- Keine Ampelanzeige „Freigabe folgt“ o.ä. (z.B. Osnabrück), sondern schneller Grün
- Sofortampel: bedarfsgesteuerte Fußgänger-Lichtsignalanlagen mit 5 Sek. bis zum Grün - Sofortampel
- In bestimmten Fällen 2 x Fuß-Grün pro Umlauf erproben
- Grünzeitberechnungen der gesamten Strecke, die von Fahrzeugen befahren wird (Radweg inklusiv) und für ältere und mobilitätsbehinderte Menschen 1,0 m/s ansetzen
- Sekundenanzeige für Rot- und Grünzeiten der Fußgänger (Kopenhagen) oder Erprobung von Düsseldorf-Gelb, eigentlich wäre Grünblinken einfacher
- Keine Grünpfeile, wo Fußgänger und Radfahrer queren
Zebrastreifen-Programm fortsetzen
- Zebrastreifen auch in Tempo 30-Zonen
- Erprobung von weiteren Überquerungsanlagen mit Abmarkierungen unterhalb der FGÜ-Standards (Shared Space, div. andere Staaten)
- Bundesweit richtungsweisendes Modellvorhaben „Berliner Fußverkehrsstreifen-Puzzle“, d.h. ausgesuchte verschiedene Formen der aneinandergekoppelten Querungsstellen D, T, L, Y, Z, X, H, N, O usw. (div. andere Staaten)
Fußgänger = Kunden des ÖPNV
- Keine Haltestellenhäuschen so auf die Gehwege stellen, dass bis zur Hauswand weniger als die richtliniengemäße Breite übrigbleibt (Berlin)
- Gute ÖV-Anbindung, insbesondere fahrgastfreundliche Ampeln an Haltestellen in Mittellage, evtl. Zeitinsel-Haltestellen
- Öffentliche Bekanntgabe aufgrund einer Umsetzungsstrategie: Parken und Halten im Haltestellenbereichen wird vom ÖV-Personal nicht mehr hingenommen sondern erfasst und notfalls angezeigtVerkehrsabhängige Schaltung auch für ÖV
Radfahrer = Partner im Umweltverbund
- Gute Radverkehrsplanung (Fahrwege, Abstellanlagen) schafft sichere und attraktive Fußverkehrswege
- Gehwege sind dem Fußverkehr vorzubehalten, d.h. auch ohne fahrenden Radverkehr und störend abgestellte Räder
Fußläufige Erreichbarkeit der wichtigen Ziele gewährleisten
- Bauordnungsrecht ändern und in Richtlinien für den ruhenden Verkehr aufnehmen: Kulturstätten, Gaststätten, Einkaufszentren, Behörden usw. müssen für Kunden zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln und auch von gerade aus dem Auto ausgestiegenen Fußgängern über die Parkplätze hinweg auf Gehflächen sicher und komfortabel erreichbar sein (z.B. Gehstreifenmarkierungen, Zebrastreifen, Überdachung, etc.)
Nahversorgung fußverkehrsgerecht
- Service für das Zwischenlagern von Einkäufen oder die Unterbringung von zu warmen Kleidungsstücken, z.B. durch Schließfächer im Einkaufshandel für alle, die kein abschließbares Blechgefäß = Auto in Nähe zur Verfügung haben (vgl. Schweden)
- Bonusprogramm in Einzelhandel und Gastronomie für Fußkunden
- ÖPNV-Schein-Erstattung wie Park-Schein-Erstattung (z.B. Sachsenhausen, Darmstadt)
- Nach-Hause-Lieferung, für Notfälle (Gehunfähigkeit) auch Haus-Bestell- und Lieferservice
- Verleih und Propagierung von Schub- und Zugtransporten (Renterkarren, Schubkarre, Ziehanhänger usw.) zur Fahrbahnnutzung
- Regenschirmverleih in Geschäften
- Parkplatzzahlen-Limits nach oben für Einzelhandelsprojekte, denn der Kunde kommt zu Fuß
Gestaltung von Fußverkehrsanlagen und Service
- Abwechslung der Beläge, schöne Pflasterungen, aber auch in der Stadt weiche, federnde Gehwegabschnitte
- Soviel grün wie möglich (Bäume, Sträucher, Schmuckbeete, Vorgärten, Baumscheiben), aber keine Sichtbehinderungen dadurch in Nähe von Querungsstellen
- Jede Menge Sitzgelegenheit in Schatten und Sonne, an Stellen mit wenig Kfz-Verkehr, aber durchaus auch an zentralen Stellen (z.B. Karl-Marx-Straße, Berlin), Bänke stehen nicht in Reih und Glied, sondern 1,2,3 und 4-Sitzer sind in gesprächsfördernde Sitzgruppen gegliedert (Barcelona)
- Wasserspiele, Brunnen mit Trinkwasser, Wasserautomaten (Moskau)
- Räume der Stille „Ruhezone“, auch ohne Handys
- Laufrouten: Jogging Trimm-Dich-Pfad, Gesundheitspfad
- Spielplätze und einfache Balanciermöglichkeiten für Kinder
- Schuhputzautomaten, Hundekotabfallbehälter
- Gute Stadtpläne mit ÖV-Infos, Gehzeiten-Anzeiger, Zielgruppenstadtpläne, z.B. Kinderstadtplan von Kindern für Kinder
- Infotafeln in der Stadt mit Kulturangeboten und Erreichbarkeiten in Minuten zu Fuß
- Individuell ausgelichtete Gehwegbereiche, Nachtinszenierungen
- Erste-Hilfe-Kasten in der Autowerkstatt für notgedrungene neue Fußgänger (Fußgängerstadtplan, Schnelleinstieg ÖV-Nutzung, etc.)
Anmerkungen:
- Denkanregung 1: Wann finden Sie Zufußgehen richtig toll? Wann finden Sie es extrem nervig / anstrengend?
Denkanregung 2: Denken Sie mal an Ihre Reisen in andere Länder/ Städte: Wie haben Sie sich dort als FußgängerIn gefühlt? Gab es dort Besonderheiten in Bezug auf die Fußgängersituation? Sind dort mehr Menschen als hier zu Fuß gegangen? Warum? Welches Image hat das Zufußgehen dort? Warum?
Denkanregung 3: Wie sähe Ihre persönliche Traum-Fußgänger-Stadt aus, in der Sie nur noch zu Fuß gehen möchten? - Rollen: Ich bin … ein Fußgänger bei Schnee und Glätte / ein Fußgänger mit Hund / eine Fußgängerin bei Regen / ein effizienzorientierter Fußgänger / ein Fußgänger bei Nacht / eine schwangere Fußgängerin / ein hungriger Fußgänger / eine Musik hörende Fußgängerin / eine sportliche Fußgängerin / eine kulturinteressierte Touristin zu Fuß / ein Kind im Grundschulalter / ein Philosoph und natürlich Fußgänger / ein an Shopping interessierter Fußgänger / eine sehr betagte unsichere Fußgängerin / eine naturinteressierte Fußgängerin / ein Fußgänger mit Kinderwagen / mit dem Rollstuhl unterwegs / eine sehbeeinträchtigte Fußgängerin / Psychologe und Fußgänger / eine blinde Fußgängerin / ein historisch interessierter Tourist zu Fuß / ein Kleinkind und lerne gerade laufen / eine Fußgängerin aus Not: Mein Auto ist in der Werkstatt / Wir sind als mehrköpfige Jugendclique zu Fuß unterwegs.
Berichterstattung:
Bernd Herzog-Schlagk (FUSS e.V.) und Hanna Schlagk (Moderatorin), 22.04.2010
Alltagsumwelt Hauptverkehrsstraße mehr als nur Verkehr
Die Raumwahrnehmung älterer Fußgänger an städtischen Verkehrsadern
Große Verkehrsadern können besonders für ältere Fußgänger zur großen Herausforderung werden. Es gilt, diese Räume nicht nur physisch, sondern auch „emotional“ barrierefrei zu gestalten, um sie ohne Stress und Angstgefühle nutzbar zu machen.
Viele Hauptverkehrsstraßen sind vor allem durch den privaten Pkw geprägt: Überbreite Fahrspuren, Stellplätze, Lärm und Abgase lassen häufig nur wenig Raum für andere Funktionen und Ansprüche. Dabei ist die HauptverBeitragkehrsstraße eindeutig mehr als nur ein Verkehrsraum. Hier konzentrieren sich die Standorte von Einzelhandel, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen, hier bündeln sich die Linien des ÖPNV und befinden sich stadtbildprägende Strukturen und Gebäude. Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise zu zentralen Anlaufpunkten und Identifikationsträgern in der Stadt. Gerade für ältere Menschen stellen sie wichtige Alltagsräume im Quartier dar. Aufgrund sinkender Mobilitätsradien werden die Angebote und Erfahrungsräume im wohnungsBeitragnahen Bereich, zu dem nicht selten auch große Verkehrsadern mit ihrer Nutzungsvielfalt gehören, zunehmend wichtiger. Als Orte alltäglicher Erledigungen, als Erinnerungsraum, Orientierungshilfe oder Quelle neuer Eindrücke, Hauptverkehrsstraßen werden zu einer bedeutenden Ressource. Eine „Flucht“ zu ruhigeren, vielleicht attraktiveren Lagen ist nicht immer möglich.
Sensible Verkehrsteilnehmer
Von älteren Menschen per se als schutzlosen und hilfsbedürftigen Verkehrsteilnehmern zu sprechen, würde dem heterogenen Bild des Alterns entgegenstehen und nicht der Realität entsprechen. Tatsache ist jedoch, dass insbesondere hochaltrige Menschen vermehrt von Einschränkungen betroffen sind, die die Mobilität beeinträchtigen. In den kommenden Jahrzehnten ist mit einem rapiden Ansteigen gerade dieser Gruppe zu rechnen. Da mit zunehmendem Alter die eigenen Füße zum mit Abstand wichtigsten Verkehrsmittel werden, sind ältere Fußgänger und ihre spezifischen Anforderungen ein zu Recht dauerhaft aktuelles Forschungsthema. Stellen Lärm, Abgase, Geschwindigkeiten und eine am Pkw orientierte Gestaltung bereits für den durchschnittlichen Fußgänger eine Belastung dar, können sie für ältere Menschen schnell zur großen Herausforderung werden. Städtische Hauptverkehrsstraßen werden auf diese Weise nicht nur zur physischen, sondern auch zur emotionalen BarrieBeitragre und können meidendes und rückzugsorientiertes Verhalten auslösen. Im Rahmen der diesem Artikel zugrundeliegenden Diplomarbeit wurden ältere Fußgänger mit Mobilitätseinschränkungen an großen Verkehrsadern begleitet und insbesondere das subjektive Empfinden wurde dokumentiert (vgl. Kasten „Méthode des Itinéraires“). Der herausfordernde, in Teilen sogar überfordernde Charakter städtischer Hauptverkehrsstraßen konnte dabei eindrücklich beobachtet werden.
Emotionale Barrierefreiheit
Wie müssen nun also altersgerechte Hauptverkehrsstraßen aussehen? In der Planung dominieren häufig Konzepte, die sich vor allem mit physischen Komponenten wie z.B. einer verbesserten Querbarkeit oder einem barrierefreien Vorankommen befassen. Die Fachliteratur zum Thema Barrierefreiheit ist mehr als umfangreich. Konzepte, die aber auch subjektive Aspekte wie etwa die Themen Stress, Anregung oder die Identifikation mit dem Raum beinhalten sowie die Einflüsse des Straßenverkehrs auf die Wahrnehmung berücksichtigen, sind selten. Doch Handlungskonzepte müssen nicht nur physisch altersgerecht sein, sondern auch die emotionale Dimension des Zufußgehens abdecken. Es gilt, integrierende „alterssensible“ Strategien zu entwickeln.
Als wichtiges Handlungsfeld lässt sich die sichere Erreichbarkeit und Querbarkeit hervorheben. Während der Spaziergänge wurden nahezu durchweg große und andauernde AngstBeitraggefühle beim Queren der Straße geäußert. Auch Ampeln erzeugten für die begleiteten Fußgänger häufig nur eine Schein-Sicherheit. Freies Queren ohne Hilfseinrichtungen wie z.B. Lichtsignalanlagen wurde selbst bei großen und für die Gehgeschwindigkeit objektiv ausreichenden Lücken im Verkehrsfluss abgelehnt oder als gefährliches Risiko eingestuft.
Zufußgehen heißt auch Aufenthalt
Von besonderer Bedeutung für alternssensible Konzepte ist darüber hinaus die Beschäftigung mit den Themen Aufenthalt und soziale Teilhabe – gerade an Hauptverkehrsstraßen. In Bezug auf ältere Menschen erhält der Begriff des Aufenthalts schließlich eine völlig neue Bedeutungsdimension, wenn dieser nicht nur auf freiBeitragwillige Tätigkeiten begrenzt, sondern auch auf unfreiwillige Aufenthaltszeit ausgedehnt wird. Aufgrund von Einschränkungen in der Mobilität ist bei vielen hochaltrigen Fußgängern von einer deutlich verlangsamten Gehgeschwindigkeit und einem erhöhten Bedarf an Ruhepausen auszugehen. Dadurch wird die Zeit, die an einer Hauptverkehrsstraße verbracht werden muss z.B. im Vergleich zu jüngeren Personen merklich erhöht. Der Fußweg entlang einer großen Verkehrsader kann für ältere Menschen also durchaus zum kleineren Aufenthaltserlebnis werden. Neben Möglichkeiten für einen stressfreien Aufenthalt müssen darüber hinaus optimale Voraussetzungen für eine gute Orientierung und Identifikation mit dem Raum geschaffen werden. Es geht darum, Halt zu geben, den Raum kontrollierbarer und anregender zu gestalten.
Schlüsselmaßnahmen sind hier sicher der Rückbau von oftmals überbreiten Fahrbahnen und eine Geschwindigkeit deutlich unter den momentan noch üblichen 50 km/h. Dadurch werden wichtige Voraussetzungen für eine verträglichere Abwicklung der verkehrlichen Belastungen geschaffen: Weniger Lärm, überschauBeitragbarere Fahrgeschwindigkeiten, leichter querbare Straßenräume und vor allen Dingen: mehr Raum für eine attraktivere Straßenraumgestaltung. Doch viele Straßen lassen nur begrenzt Spielraum für großangelegte Umbauten. Hier kommt es v.a. auf kompensatorische, d.h. subjektiv ausgleichende Lösungen wie z.B. mehr Grün, mehr Farbe oder einfach mehr AbwechsBeitraglung im Straßenraum durch ein attraktives Erscheinungsbild und lebendige Randnutzungen (Schaufenster etc.) an. Die Möglichkeit zur positiven Ablenkung, zur Beschäftigung mit Aspekten außerhalb des Verkehrsgeschehens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, was auch die Stadtspaziergänge nochmals bestätigten. Auch kleine Pufferräume zur Fahrbahn, z.B. durch eine Baumreihe, können die Bedrohlichkeit der Verkehrskulisse mindern helfen.
Untrennbar verbunden mit dem Thema Aufenthalt ist auch der Bereich Kommunikation. Gerade dieser Aspekt ist in diesem wichtigen Alltagsraum mit seinen zahlreichen Chancen auf Zufallstreffen von Bekannten besonders wichtig. Ist jedoch kein Platz für großzügige „Ruheinseln“, die die Verkehrskulisse zumindest subjektiv abmildern, bieten alternativ die Mündungsbereiche der Nebenstraßen häufig große Potenziale (z.B. „Gehwegnasen“). Abseits des direkten Verkehrslärms und der Abgase, doch immer noch in Sicht- und Laufweite, könnten auf diese Weise attraktive „Ausweichräume“ für Kommunikation und neue Eindrücke geschaffen werden. An historisch bedeutsamen Stellen oder in Sichtachsen zu stadtbildprägenden Gebäuden können darüber hinaus gezielt platzierBeitragte und attraktiv gestaltete Ruhebereiche zu identitätsstiftenden Erinnerungs- und BeobachBeitragtungsräumen werden. Im Einzelfall bleibt zu prüfen, inwieweit solche Räume z.B. durch gestaltete Glaselemente zumindest subjektiv vom Verkehr geschützt werden können.
Die Liste weiterer „prothetischer“, d.h. unterstützender, Elemente für mehr Altersgerechtigkeit ist lang: Haltegriffe an Licht- und Ampelmasten in regelmäßigen Abständen, Sitzrouten mit multifunktionalen Sitzgelegenheiten, abschnittsBeitragweise Farbkonzepte zur besseren Orientierung, Wasser als positives Gegengeräusch zum Lärm, ablenkende „Duftinseln“ mit besonders intensiv blühenden Baumarten oder z.B. einfach nur Mittelinseln, die über die Regelbreiten hinausgehen und das Warten im Verkehr weniger bedrohlich erscheinen lassen. Die Maßnahmen schaffen dabei keine ausgrenzenden „Altenboulevards“, sondern bieten im Sinne eines Designs für alle auch anderen Nutzergruppen deutliche Vorteile.
Beteiligung bei allen Schritten
Es gilt, maßgeschneiderte Konzepte für den Einzelfall zu entwickeln. Eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums kann jedoch nicht am Schreibtisch stattfinden, sondern muss die älteren Menschen selbst mit einbeziehen.
Die Ergebnisse der Diplomarbeit haben deutlich gezeigt, wie stark „objektive“ Straßenraumbewertungen durch den Planer von der subjektiven Sicht der älteren Fußgänger selbst abwichen. Dabei wird noch einmal die Schwierigkeit offenbart, subjektive Aspekte operationalisieren zu können. Durch eine frühzeitige und intensive Beteiligung wird auch die Chance offen gehalten, den Planungsprozess mit kontrollieren zu können und nicht passiv vor neugestaltete VerkehrsBeitragumwelten gestellt zu werden, in denen die Orientierung schwer fällt.
Neben einer weiteren Erforschung der Einflüsse des Verkehrs auf die Raumwahrnehmung wird zukünftig verstärkt zu prüfen sein, inwiefern neue Konzepte der Stadtverkehrsplanung wie z.B. Shared Space oder Begegnungszonen positiv zur Aufwertung großer Verkehrsadern beitragen können und subjektiv wahrgenommen werden. Die Ansätze verheißen spannende Möglichkeiten, werfen aber z.B. hinsichtlich des Sicherheitsempfindens auch Fragezeichen auf. Doch egal welche Ansätze gewählt werden, eine ganzheitliche „alterssensible“ Sicht erscheint zwingend notwendig.
Hintergrund: „Méthode des Itinéraires“
In den 70er Jahren von J.-Y. Petiteau geprägt, beschreibt die „Méthode des Itinéraires“ eine besondere Form der Stadtspaziergänge, bei der die subjektive Sicht des Einzelnen im Vordergrund steht. Im Rahmen eines dreistufigen Verfahrens wechseln Forscher und Testperson mehrmals die Rollen. Der Forscher tritt dabei v.a. als Beobachter auf, während die Testperson eine Führungsrolle auf dem ihr vertrauten Terrain einnimmt.
In Kürze
Städtische Hauptverkehrsstraßen sind gerade für ältere Menschen wichtige Alltags- und Bewegungsräume. Durch eine sensiblere Lesart des öffentlichen Raums könnten Straßenräume geschaffen werden, die mit weniger Stress und Angstgefühlen nutzbar sind. Dabei kommt der Beteiligung älterer Menschen selbst eine Schlüsselrolle zu.
Weitere Informationen:
- Petiteau, Jean‐Yves; Pasquier, Elisabeth 2001: La Méthode des Itinéraires – récits et parcours. Grosjean, Michèle; Thibaud, Jean‐Paul (Hrsg.): L’espace urbain en méthodes. Marseille: Ed. Parenthèses
- Franz, Matthias 2008: Ältere Menschen an städtischen Hauptverkehrsstraßen. Diplomarbeit an der Fakultät Raumplanung, Technische Universität Dortmund
- Kontakt:
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Dieser Artikel von Matthias Franz ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.
Mit Fußverkehr städtebauliche Ränder überwinden
Auch wenn manche nicht mehr daran glauben mögen, Fußverkehr bleibt der wichtigste Verkehr in der Stadt: Als Fußgänger tragen wir entscheidend zur Stabilisierung der Lagegunst in urbanen Systemen bei. Eine beständige Lagegunst ist Grundvoraussetzung nachhaltiger Investitions- und Handlungsentscheidungen und ermöglicht den Menschen langfristige Bindungen am niedergelassenen Ort.
Eine solide Fußwegeerschließung
- reduziert die Umweltbelastung,
- sorgt für subjektive und objektive Sicherheit in den Straßen,
- ermöglicht erlebbare Übergänge zwischen den Nutzungen und
- ist wichtige Voraussetzung für die Herausbildung von mannigfaltigem Angebot.
Oder umgekehrt formuliert, wir verletzen die Lebensbedingungen in unseren urbanen Siedlungsräumen auf vielfältige Weise, wenn wir den Fußverkehr und die weiteren Verkehrsmittel im Umweltverbund vernachlässigen. Zur Verdeutlichung beschäftigen wir uns in Anlehnung an die wegweisenden Arbeiten von Lucius Burckhardt mit den (zumeist unsichtbaren) Begleiterscheinungen automobilorientierter Stadt- und Verkehrsplanung, mit den Rändern:
Ränder sind Ordnung
Der mächtigste Rand ist der Stadtrand, in historischer Form als Stadtmauer mit ausgeprägt ordnender Funktion. Die Baurechte existierten zunächst nur innerhalb der Festung. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Wälle übersprungen und heute dehnen sich die Siedlungsrechte unserer metropolitanen Stadtlandschaft schier unendlich aus, tief in das weite Umland hinein. Ähnlich umwälzend entwickelte sich das Verkehrsgeschehen: Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war trotz Pferdebahnen das zu Fuß gehen der entscheidende Mobilitätsfaktor in den Städten, Mitte der fünfziger Jahre galt Fußverkehr in Kombination mit ÖPNV als Fortbewegungsmittel für die Stadtbürger und wiederum fünfzig Jahre später gelang uns mit gewaltigem Stadtumbau die massenhafte Integration des Autos. Mit unaufhörlicher Vermehrung von Autoabstellplätzen und dadurch bedingten unabsehbaren Kapazitätsausweitungen von Straßen bis hin zu autobahnähnlichen Fahrbahnen haben wir heute die Herausbildung von Rändern innerhalb der Stadtquartiere gefördert.
Starkbefahrene Straßen können ähnlich ausgrenzende und einengende Wirkungen erzielen wie unsere alte Stadtmauer: Wir meiden als ÖPNV-Benutzer, Fahrradfahrer und insbesondere als Fußgänger autodominierte Straßen. – Wenn wir uns schon als Fußgänger nicht mehr auf dem Bürgersteig in den Randzonen aufhalten wollen, bricht in Folge insbesondere den Anbietern von höherwertigeren Waren und Dienstleitungen die wirtschaftliche Grundlage weg. Die Kraft für die Herausbildung von qualitätsvollem und mannigfaltigem Spezialangebot als ureigenstes großstädtisches Potential schwindet oder kann sich erst gar nicht entwickeln. Bestenfalls Nutzungen, die nicht auf Laufkundschaft angewiesen sind und vergleichsweise geringe Umsatzrenditen pro Flächeneinheit erzielen, füllen die Lücken zumindest zwischenzeitlich.
Der Abstieg endet nicht an der Verkehrsschneise, sondern strahlt in die angrenzenden Gebiete hinein: Ränder führen ihr Eigenleben und fransen aus. Die durch ordnende Planung festgesetzte Zone, beispielsweise zwischen Einkaufsstadt und Wohngebiet entwickelt sich zur eigenen Zone: „vorne, der Streifen der zu teuer eingekauften Liegenschaften auf der Suche nach einem Betreiber und hinten das Gebiet der abgewirtschafteten Gebäude, deren Besitzer den Verlust noch nicht wahrhaben wollen.„ Ränder vernichten Investitionsleistungen oder Zukunftsperspektiven.
Ränder fördern Randnutzungen
Am Beispiel der sechsspurigen Kurt-Schumacher-Straße, welche die wiederaufgebaute Altstadt von Kassel in zwei Teile trennt, können wir studieren, wie im unmittelbaren Umfeld Verwaltungen, eingeführte Büros, Praxen, sortierte Fachgeschäfte und Gaststätten verschwinden und auch längere Zeit Lücken hinterlassen, bis Folgegeschäfte mit geringerer Bodenverwertung, wie Discounter, Secondhand-Läden, Sexshops, Imbiss-Stuben, Angebote für Jugendliche und Emigranten den wirtschaftlichem Erfolg unmittelbar am Rand der Einkaufsstadt suchen.
Sinkende Lagegunst bedrängt den Wohnstandort. Viele Bewohner reagieren auf das Milieu ihres Wohnumfeldes, verlassen unangenehme Straßen, wandern Richtung Stadtrand. Soziale Entmischung mit schwer zu bewältigenden ökonomischen Konsequenzen für verbleibende Einrichtungen des Stadtviertels ist schleichende Konsequenz ausfransender Ränder. Ränder sind mobil, so dass benachbarte Bezirke in den schleichenden Abwärtstrend hineingezogen werden, besonders wenn mehrere Randerscheinungen das urbane Gewebe einer sinnvollen Nutzung beschädigen.
Ränder ziehen Randgruppen an; diese verunsichern Besucher und Bevölkerung. Heute lockt die ausweitende Randzone unmittelbar vor der Kasseler Einkaufsstadt Dealer, Hehler und Gewalttäter an; der Rand wurde Kriminalitätsschwerpunkt. Videoüberwachung wichtiger Stadtplätze und Eingänge zur Kasseler Einkaufsstadt soll künftig als präventives und aufklärendes Instrumentarium eingesetzt werden. Nach Jane Jacobs müsste Städteplanung Sorge tragen, dass Bürgersteige möglichst flächendeckend, über den gesamten Tagesverlauf frequentiert werden, damit Bewohner, Gewerbetreibende und Passanten in die Lage versetzt werden, ihre Straße eigenverantwortlich kontrollieren zu können.
Ränder zerstören das Angebot
Auf welche Weise Lagegunstverschiebungen durch Ränder sichtbar werden und den Grad der Angebotsvielfalt „steuern„, lesen wir am besten bei Burckhardt nach: „Über jeder Stadt liegt unsichtbar, in Form einer Käseglocke, die Bodenwertkurve. An jeder Stelle der Stadt wird sich diejenige Nutzung einstellen, die in der Lage ist, den dort gültigen Bodenpreis zu verzinsen. Die Ränder sind die Stellen des steilen Abfalls der Bodenwertkurve. Physisch ausgebildete Ränder schnüren die Zonen ein und steigern die Bodenwertdifferenzen zwischen innen und außen. Ziel der Stadtplanung muss es sein, die Bodenwertkurve abzuflachen; nur Zentren mit flachen Bodenwertkurven sind gut versorgt. Die Härte des Randes der Einkaufsstadt zerstört also deren wichtigste Angebotsqualität, die Mischung.„
Zerfall urbaner Ökonomien
Wenn Innenstädte wichtige Segmente an Detail- oder Spezialangeboten verlieren und stattdessen hauptsächlich Massenangebote von Konzernen und Filialen angeboten werden, können sie auf Dauer nicht mehr mit den Einkaufszentren am Stadtrand konkurrieren. Ähnlich folgenschwer ist die Besiedlung des Stadtumlandes zwischen Autobahnen und Zubringerstraßen: nach innen reißen insbesondere in den gewachsenen alten Gewerbe- und Mischgebieten aber auch in den Großsiedlungen Nutzungslücken und Brachflächen auf, die mit staatlichen Förderprogrammen baulich und sozialpolitisch gefestigt werden sollen; und nach außen ist heute schon abzusehen, dass vielen neu entstandenen Wohn-, Einkaufs- und Gewerbeparks Kraft zur Stabilisierung und Weiterentwicklung fehlen wird: die schier grenzenlose Verlagerung städtischer Aktivitäten an den Stadtrand – geordnet und eingebettet zwischen den Rändern grünflächenumsäumter Tangenten – verschiebt und beschleunigt die Lagegunst im urbanen Gesamtsystem enorm.
Schließlich setzt die oben skizzierte Entwicklung durch zwangsläufig vermehrende PKW-Leistung eine Spirale in Bewegung, welche die inneren Ränder verhärtet: Die Großstadt zerfällt in verkehrsumspülte Nutzungszonen, die unzureichende Synergieeffekte mobilisieren können und ökonomisch wie räumlich als „Kleinstädte„ oder gar „Dörfer„ zerfallen. In dieser Entwicklungstendenz
- sind Großstädte kulturell und wirtschaftlich nicht mehr in der Lage, eine feingliedrige Angebotsvielfalt hervorzubringen;
- ist leistungsfähiger Umweltverbund und insbesondere der Fußverkehr nicht mehr kompatibel und lebensnah zu integrieren;
- breitet sich wegen nicht durchhaltbarer Ordnungsvorstellungen Unordnung und Chaos in der grenzenlosen Stadt aus; es ist abzusehen, dass staatliche und private Mittel nicht ausreichen werden, die aufreißenden Löcher im überdehnten Gewebe urbaner Agglomeration zu stopfen.
Es gibt unter der Prämisse steigenden PKW-Verkehrsaufkommens keine strategisch wirksamen baulichen Lösungen, die Härte der Ränder überwinden zu können. – Im Gegenteil, viele Planungsbemühungen, Eingriffe und Sanierungen verfehlen die urbanen Herausforderungen und verschärfen die Konflikte unsichtbar – vor allem wenn fortlaufender Handlungsbedarf für nicht reduzierbare Probleme ausgelöst wird: denken wir an die unersättliche Integration von Autoabstellplätzen, die zu Ausweitung von Fahrspuren und zu immer stärker ausfransenden Randzonen führt, oder an weiträumige Siedlungserweiterungen, ohne dass Einwohnerzahl oder Gewerbeaktivität zunimmt. Auch das Durchlässigmachen barriereartiger Ränder an nur wenigen oder exponierten Stellen, löst die Spannung nicht, wenn die an sich wünschenswerte Vernetzung an zu wenigen Stellen geschieht, und dafür zurückgenommene Straßenbelastungskapazität in andere Straßen verlagert oder gar überkompensiert wird.
Resignieren vor Rändern?
Wir alle wissen, dass Menschen in Städten zu großen Kulturleistungen fähig sind. Dies funktioniert umso besser, wenn möglichst viele Menschen miteinander kommunizieren und für sich hinreichende Lebensperspektiven entwickeln können. Städte sind umso erfolgreicher, je sinnvoller die Bewohner und Akteure ihre Ressourcen und Kräfte einsetzen und auch bündeln können. Und diese Kulturleistungen hängen von handlungsfördernden und synergetischen Möglichkeiten jedes Einzelnen im städtischen Gewebe und ihren Wechselwirkungen ab.
Ich möchte Auswege aus dem derzeitigen Stadtentwicklungsdilemma aufzeigen, mit einer Skizze zum Re-design eines sinnvollen Stadtgewebes: Dabei zielt eine aus drei Handlungssträngen bestehende Strategie auf die Umkehrung der Dynamik unserer falsch angelegten Städte: Indem wir:
- Wege suchen, die den Teufelskreis unserer verkehrt erschlossenen Städte aufbrechen;
- mittels einer zeitgemäßen Bau- und Planungskultur zunächst mit hochwertigen Wohnungen anstreben, die Bewohner wieder in die Innenstädte zu locken und
- durch Förderung von Vernetzung, Mischung und Nutzungsüberlagerungen die Basis für künftige, mannigfaltige Angebotsentwicklungen legen.
Die große Gestaltungsaufgabe wird sein, vorhandene oder sich bildende Ränder durch „Mischung„ zum Auflösen zu bringen. Hierbei macht es Sinn, die äußere Anspannung der Ränder zu ersetzen durch eine innere Anziehungskraft: Erhöhen wir also die generelle Benutzbarkeit von Straßen, Gebäuden, Gärten, Freiflächen, Ensembles und Quartieren, als Grundlage für zukunftsoffene Handlungsoptionen und stabilisierende Entwicklungen im Bestand.
Kultivieren wir die Straße
Wir kennen die Richtschnüre stadtverträglichen Verkehrs, nämlich möglichst viele Menschen auf kleinstem Raum zu befördern: Im Regelfall haben dann Fußgänger und Radfahrer Primat vor Bus und Bahn und diese Vorfahrt vor dem Auto. Wie mischen wir dann Verkehrsschneisen? Indem wir die überdimensionierten Fahrbahnen ergänzen: mit Straßenbahnlinien, schnellen Fahrradstraßen, komfortablen Fußwegen; indem wir die Systeme des Umweltverbundes zu engmaschigen Netzen erweitern, für geeignete Schnittstellen sorgen und das Umfeld attraktiv und sicher gestalten. In überdimensionierten Straßenfluchten kann es morgen wieder Sinn machen, mit baulichen Ensembles Brücken in benachbarte Quartiere zu schlagen. Damit lösen wir Ränder als Zonen unterschiedlicher Bodenverwertungen nicht auf, sorgen aber für Nutzungsverzahnungen und damit für eindrückliche und erlebbare Übergänge und weiche Abstufungen der Bodenwertkurve.
Hierzu brauchen wir Geduld: Ränder sind heute fest eingefahren; infolgedessen versuchen wir als funktionelle Strategie zunächst die Randerscheinungen unserer verkehrt angelegten Großstadt auf organisatorischem Wege zu entschärfen; indem wir uns fragen, wie wir möglichst viele Menschen überzeugen können, selbstverständlich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Haben sie eine Idee? Ich denke an ernstgemeinte Bevorzugung des Umweltverbundes, ja als Daseinsvorsorge. Nicht finanzierbar? Dafür müssen wir viel weniger Mittel aufwenden, als die Autointegration gekostet hat bzw. weiter kosten wird. Alle anderen Verkehrsbewältigungsstrategien sorgen für virulente Randerscheinungen und sind für Staat, Kommunen und Gesellschaft teurer – und auf Dauer unbezahlbar: Unsere Bau-, Förder- und Steuerpolitik bleibt unschlüssig, wenn weiterhin alle Verkehrsträger gestützt werden sollen und in der Tendenz Verkehrsmittel und Wege des Umweltverbundes zurückgedrängt werden – und folglich gut angelegte Städte Utopie bleiben müssen.
Nachdenkenswert halte ich ein Teilergebnis einer kürzlich im Auftrag von Chrismon durch das Emnid-Institut durchgeführte demographische Umfrage: Auf die Frage, welche Ziele man verfolgen würde, wenn man der König von Deutschland wäre, antworteten immerhin ein knappes Fünftel der Bevölkerung: „Alle öffentlichen Verkehrsmittel können kostenlos genutzt werden„. Junge Menschen mit höherem Bildungsabschluss und Bürger aus Ostdeutschland gehörten zu den stärksten Befürwortern.
Kultivieren wir Planen und Bauen
Vor herausfordernde Aufgaben stellt uns die Reaktivierung vernachlässigter Siedlungsgebiete: Insbesondere in zentral gelegenen aber niveauarmen oder sinkenden Quartieren sollten wir versuchen, durch Mischung dynamische Entwicklungen einzuleiten, damit dort wieder ein breites Bevölkerungsspektrum gerne lebt – und auch viele andere in der Nähe arbeiten – und als Folge der vorhandenen „primären Ökonomien„ Dritte eine hinreichende wirtschaftliche Basis vorfinden und deshalb erweiterte Angebote anbieten können.
Nutzungsoffene Gebäude
Wie könnte also unser städtisches Gewebe „gemischt„ werden, damit Stadtbildner und Stadtfüller möglichst effizient und reibungsarm ihren Lebensauftrag nachkommen können? Ich glaube, die ästhetische Aufgabe wird sein, den Bestand mit privaten Stadthäusern zu ergänzen, die vielfältigere und höhere Nutzungspotentiale ermöglichen, als die meisten Familienhäuser am Stadtrand: Bauten, die optimal erschlossen sind, also an lebendigen Straßen liegen und hinreichende Freiflächen aufweisen – nicht nur von außen einsehbare, sondern auch private/ intime Höfe und Gärten; Bauten, die gut bemessene räumliche Standards und auch Pufferzonen beherbergen, um zukünftig ein vielfältiges Spektrum von Nutzungen zu ermöglichen: großzügige Wohnungen, Büros, wohnverträgliche Kleinproduktion, Ladengeschäfte, Gruppenräume oder auch Ergänzungen fürs Altenteil – alles Nutzungen, die in Raumsystemen zwischen 50 und 250 Quadratmetern ihren Platz finden.
Wachstum und Flexibilität statt Vollausbau
Damit die Zukunft nicht vorneweg genommen wird, sollte das sinnvolle Baupensum nicht gleich voll ausgeschöpft werden: anstelle von heute um sich greifenden Vollausbau könnten wir mit zunächst vermindertem Baurecht versuchen, gewisse zukünftige Erweiterungsmöglichkeiten einzuplanen. Gerade die unausgeschöpften, aber denkbaren Möglichkeiten baulicher Veränderungen erleichtern es den Bewohnern ihre Häuser, Höfe und Gärten intensiv zu nutzen, zu pflegen und weiterzuentwickeln: Anpassungsfähigkeit ist wichtig, damit Mischnutzungen hineinwachsen können und damit die Häuser nicht bereits nach einer Nutzergeneration in Ihrem Niveau absinken. Die Herausbildung vielfältiger Nutzungspotentiale in städtebaulicher Dichte fordert unsere Bau- und Planungskultur heraus, künftig mehr Grenzbebauung im sinnvollen Rahmen zuzulassen: Parzellen mit Zellwänden erlauben den Menschen vielfältigere raumprägende Nutzungen zu entwickeln, als untaugliche Konfliktregelungen über flächenintensive und nur eingeschränkt nutzbare „Abstandsflächen„.
Für das Re-design eines zweckmäßigen Stadtgewebes ist im Innenbereich der meisten Städte erstaunlich viel Raum vorhanden und es kommen immer neue Flächen dazu. Höhere Kosten für Pufferzonen und Wachstumspotentiale müssen nicht entstehen, wenn die Planung einen Teil aufwendig hergestellter oder öffentlich gepflegter Flächen privaten Nutzern zuschlägt, die heute als Verkehrsbeleitgrün oder Doppelerschließung dienen. Auch das Mitberücksichtigen räumlicher Standards kann durch bauliche Einsparungen, im Zuge stadtverträglicher Erschließung ausgeglichen werden.
Stadtgesellschaften stärken
Diejenigen Städte, welche die Feinwirkungen stadtverträglicher Erschließung und soziokultureller Bedingungen für vielfältige Angebotsentwicklung begreifen und auch versuchen konsequent umzusetzen, werden am ehesten das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen, damit diese wieder in die inneren Stadtgebiete zurückkehren und dort investieren (können). Und ehe Baugebietserweiterungen oder Verkehrsprojekte umgesetzt werden, untersuchen fortschrittliche Kommunen die (absehbaren) Interdependenzen von Bauentwürfen im urbanen Gesamtsystem. Mit kleinen Eingriffen gibt die Planung dann Impulse für die Regenerierung stockender Quartiere, sind doch Stadtentwicklung und Bodenwertkurve flächendeckend zu stabilisieren.
Weiteres Planungsziel sollte sein, möglichst vielen Akteuren hinreichende Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten mitzugeben, damit durch ihr Zusammenwirken stabile Stadtgesellschaften und reichhaltige Angebote erwachsen. Gefordert ist jedoch eine städtebauliche Struktur, die geeignet ist, unordnungsstiftende Randerscheinungen nicht funktionierender städtebaulicher Ordnung der letzten 50 Jahre zu kompensieren.
Fußverkehr – als engmaschiges, komfortables Netz – ist dabei wichtigster Schlüssel für Erreichbarkeit, Kommunikation und öffentliche Sicherheit in den Straßen. Schützen wir den Fußgänger mit allen unseren Kräften: er gewährleistet stabile Lagegunst, als entscheidende Voraussetzung wirtschaftlich dynamischer Städte.
Weitere Informationen:
- Burckhardt, Lucius: Sichtbare und unsichtbare Ränder. Deutsche Bauzeitung, S. 116 f, 6/1994.
- Burckhardt, Lucius: Bauen ein Prozess. Niederteufen 1968.
- Chrismon 8/2001, S. 10 und Zusammenstellung der EMNID-Untersuchung in www.chrismon.de
- Jacobs, Jane: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Frankfurt am Main 1963.
Dieser Beitrag von Roland Hasenstab erschien in der Dokumentation: Fußverkehr im Umweltverbund – 30 Beiträge vom 1. FUSS-Botschaftertreffen am 12.10.2001 in Berlin, FUSS e.V. (Hrsg.), Berlin 2002
Die Veröffentlichung „Fußverkehr im Umweltverbund“ ist bei uns für 10,00 Euro zzgl. Porto zu beziehen. Sie können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Broschüren > Fußverkehr-Allgemein bestellen.
Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele
Stadt- und Verkehrsplanung prägen die Verkehrsmittelwahl und auch das Verkehrsverhalten in den Kommunen. Folgende Beiträge zeigen Ansätze, den Fußverkehr besser in die Konzepte und Strategien zu verankern:
- www.fussverkehrsstrategie.de
- www.fussverkehrs-check.de
- www.strassen-fuer-alle.de
- Kommunal laufen national planen. Fußgänger-Masterplan auch für Deutschland? (mobilogisch!-Artikel, 2/09)
- Masterplan Fußverkehr fürs ganze Land (Projektbeschreibung)
- Verbesserungspotential im Bereich nachhaltiger Verkehr in Großstädten weltweit (mobilogisch-Artikel, 1/16)
- Fuß fassen - Wege zur besseren Integration von Fußgängerbelangen in die kommunale Planung als PDF (fußnote 8, April 2008)
- Ansprüche von Fußgängerinnen und Fußgängern (Vortrag 1. Deutscher Fußverkehrskongress, 2014 Wuppertal)
- Planungsinstrumente für den Fußverkehr (mobilogisch!-Artikel, 1/06)
- Planungsprinzipien und Verkehrsflächen-Aufteilung (www.geh-recht.de > Fußverkehrsanlagen)
- Fußgänger in der kommunalen Planung (Presseerklärung, 2/08)
- Vor Ort einzubindende Interessengruppen (www.fussverkehrsstrategie.de)
- Alltagsumwelt Hauptverkehrsstraße mehr als nur Verkehr - Die Raumwahrnehmung älterer Fußgänger an städtischen Verkehrsadern (mobilogisch!-Artikel, 1/10)
- Berliner Appell zur Stadt- und Freiraumplanung "Städte in Zukuft: urban + mobil + grün!" (Abschlusserklärung des 19. Bundesweiten Umwelt- und Verkehrskongresses im März 2013)
- Externe Kosten des Verkehrs in der Schweiz: Gehen – Schlankheitskur für Körper und Staat (mobilogisch-Artikel, 4/14)
- Gemeinsame Nutzung des Straßenraumes (Mischflächen) (Aussagen aus den Regelwerken)
- Barrierefreiheit (Aussagen aus den Regelwerken)
Die in den folgenden Beiträgen zusammengetragenen Beispiele kommunaler Planungen und Maßnahmen zur Förderung des Fußverkehrs sind erweiterungsfähig und sollen nur einen Einstieg in die Möglichkeiten darstellen:
- Kommunale, regionale und nationale Konzept-Beispiele für Fußverkehrsstrategien
- Funktion und Gestaltung von städtischen Haupt(verkehrs)straßen mit Schwerpunkt Innenstadt (mobilogisch-Artikel, 1/16)
- Fußverkehrskonzepte, die zum Gehen motivieren (mobilogisch-Artikel, 3/15)
- Was ist in den Städten notwendig, um den Fußverkehr zu fördern (Augsburg, Erfurt, München)? (Fachartikel, 2002)
- Mit Bürgerbeteiligung Fuß- und Radverkehr verbessern: Stadtviertelkonzept Nahmobilität in einem Münchner Stadtbezirk (mobilogisch!-Artikel, 1/08)
- Strategisches Fußgängerverkehrsnetz in London (mobilogisch!-Artikel, 3/09)
- www.berlin-zu-fuss.info - Aktivitäten des FUSS e.V. in der Bundeshauptstadt
- Flaniermeile "Unter den Linden" - Begegnen und Flanieren im Zentrum der Bundeshauptstadt (mobilogisch!-Artikel, 1/12)
- www.flaniermeile-berlin.de
- www.gruene-hauptwege-berlin.de
- Grünzug in Hamburg-Altona
- Grünzug in Hamburg-Altona (Projektbeschreibung)
- Shared Space und Verkehrsberuhigte Bereiche (fußnote 9, Februar 2012):
Im Online-Shop bestellen unter > Broschüren > Verkehrsberuhigung oder
als PDF downloaden - Bremen: Fußverkehr im Aufwind (mobilogisch-Artikel, 3/12)
- Alle Verkehrsarten unter einem Hut ein Novum in Bremen (mobilogisch!-Artikel, 1/07)
- http://www.mobilogisch.de/archiv/archiv-ausgaben/41-ml/artikel/124-kreis-oder-schlaengelverkehr.html (mobilogisch!-Artikel, 1/11)
- Shared Space genauer vor Ort untersucht. Bericht über die Exkursion von FUSS e.V. (mobilogisch!-Artikel, 1/11)
- Auswirkungen von Shared Space auf Radverkehr und ÖPNV: Vor- und Nachteile für den Umweltverbund bei Verkehrsberuhigungsprojekte (mobilogisch!-Artikel, 1/11)
Folgende Beiträge weisen darauf hin, dass Stadtplanung gemacht wird, Stadtlandschaften sich aber auch außerhalb stadtplanerischer Einwirkungen entwickeln:
- Gehen zwischen Brache und Urbanität (Fachartikel, 2004)
- Mit Fußverkehr städtebauliche Ränder überwinden (Fachartikel, 2002)
- Stadtklang (mobilogisch-Artikel, 2/15)