Vor hundert Jahren blinkte Deutschland erste Verkehrsampel. Sie begründete den Mythos eines Allheilmittels gegen städtisches Verkehrschaos. Tatsächlich sind Ampeln oft gefährlich, verwirrend und für den Verkehr ineffizient.

Was der Verkehrskasper im Kindergarten erzählt, merken sich Deutsche fürs Leben: „Bei Rot musst du stehn, bei Grün kannst du gehn.“ Will sagen: An der Ampel sind die Regeln einfach. Wer sie beachtet, ist sicher. Und sie ordnen klug das Durcheinander des Stadtverkehrs. Der Mythos von der allseits guten Ampel ist weit verbreitet – nur leider falsch.

Begründet wurde er vor genau hundert Jahre: Am Potsdamer Platz in Berlin, dem damals weltstädtischsten Ort Deutschlands, kletterte am 15. Dezember 1924 der Schutzpolizist Friedrich Lange die Leiter zwischen den Säulen eines neuartigen Verkehrsturms hinauf und begann oben in der Kanzel seinen Dienst als Deutschlands erster Ampelmann: Fünf Hebel musste Lange so synchronisieren, dass zu jeder der fünf einmündenden Straßen das jeweils richtige Licht leuchtete – hierhin grün, dorthin rot, in der dritten Richtung weiß.

Damals war das verkehrstechnische Avantgarde; heute blinken Ampeln an etwa 70.000 Kreuzungen und Übergängen im Land, davon 2.200 in Berlin. Friedrich Langes Nachfolger steuern sie längst per Software, die auf wuseligen Kreuzungen bis zu 50 Signale für Fahrbahnen, Bus- und Tramtrassen, Radwege und Fußwege synchronisiert. Ampeln sind das technisch Komplexeste und Anspruchsvolle, das den Straßenverkehr sortieren und lenken soll. Und der Verkehrskasper-Mythos lautet: Sie tun das sicher durch das Trennen von Verkehrsströmen, einfach mit zwei bis drei Lichtfarben, effizient und für alle gerecht.

"Ein Fußgänger, der lange wartet, verursacht nun mal keine Schadstoffe."

Zuerst zur Gerechtigkeit: Einigermaßen fair verteilen sie das Grün nur unter Fahrzeugen aus verschiedenen Richtungen. Definitiv ungerecht sind sie für die Menschen zu Fuß, die in der City, vor Schulen, Bahnhöfen oder Bürotürmen die große Mehrheit der Verkehrsteilnehmer stellen. Ja, stellen: Sie stehen sich die Beine in den Bauch an Ampeln beim stets längsten Rot, das Ampeln vergeben – denn die sollen vor allem Fahrzeugströme optimieren. Wer geht, stört dabei und bekommt nach den quasi-offiziellen „Richtlinien für Lichtsignalanlagen“, abgekürzt RiLSA, oft nur fünf Sekunden Grün.

Oft wartet man mehrfach: Wer diagonal über eine große Kreuzung geht, erleidet rote Wellen mit bis zu sechs Stopps an Bordsteinen, auf Mittelinseln und vor Tramgleisen. Und steht da unter miserablen Bedingungen: in Lärm und Abgasen, von Lastern und Rasern auf schmalen Mittelinseln fast gestreift und bei Regen aus Pfützen bespritzt. Im Auto wartet man warm, weich, trocken und sanft musikbeschallt – und meist kürzer. Gerecht ist an all dem nichts. Wer stinkt, muss privilegiert werden, meint dazu die Chefin der senatseigenen Berliner "Infrasignal": "Ein Fußgänger, der lange wartet, verursacht nun mal keine Schadstoffe."

1.742 bedingt verträgliche Opfer

Der Verkehrskasper hebt den Holzfinger und verkündet Mythos zwei: Kinder, das dient nur eurer Sicherheit. Ihr kriegt zwar am wenigsten Grün, aber dann könnt ihr immerhin sorglos gehen. Wenn er das sagt, müsste dem Kasper eine lange Pinocchio-Nase wachsen. Denn bei Grün ist das Gehen gar nicht sicher: 1.742 Menschen gingen laut Statistischem Bundesamt im vorigen Jahr brav wie gelernt über die Ampel und kamen dort durch „falsches Verhalten von Fahrzeugführern“ zu Schaden. Tatsächlich dürften es doppelt so viele Opfer sein, denn bei vielen weiteren Ampelunfällen war nicht zu ermitteln, ob sich Gehende oder Fahrende falsch verhalten hatten. Bekannt ist nur, dass bei Grün doppelt so viele Menschen zu Schaden kommen wie durch leichtsinniges Rotgehen – dabei verunglückten 872 Menschen.

Wo Menschen bei Grün verunglücken, hatten meist auch die Fahrer hinter der Ecke Grün. Sie biegen dann ab und kreuzen den Weg der Menschen zu Fuß über die Fahrbahn. Die meisten bremsen, wie es sich gehört – aber zu viele tun das nicht. Allein in Berlin kostete das binnen zwölf Monaten vier Menschen das Leben, darunter eine 27-jährige im Rollstuhl. Die RiLSA-Richtlinien nennen dieses gleichzeitige Grün „bedingt verträgliche Schaltung“ – für Unfallopfer klingt das ziemlich zynisch. An den unbedingt unverträglichen Kreuzungen wiegt der Verkehrskasper mit seinem Spruch kleine wie große Menschen in falsche Sicherheit. Stattdessen müsste er warnen: Bei Grün nicht gleich gehen, sondern erstmal genau sehen, ob da ein Abbieger ungebremst um die Ecke kommt. Und wenn es mehrere sind, dann im Zweifelsfall noch eine Minute warten.

Die vielen Unfälle widerlegen auch den dritten Ampelmythos: Ampeln seien einfach. Tatsächlich sind sie rot-grüne Info-Chaoten. Verlischt das Grün kurz nach dem Losgehen, dann heißt Rot zur Abwechslung: „Bleib nicht stehen, sondern beeil dich!“ Noch komplizierter ist diese Situation für einbiegende Fahrer: Sie sind eben bei Grün gestartet. Jetzt sehen sie, dass Menschen bei Rot gehen. Die Kasper-Weisheit steht für die Fahrer auf dem Kopf: Bei Grün musst du stehn, der mit Rot darf zuerst gehen. Zu viele überfordert das; ein Großteil des „bedingt verträglichen“ Ampel-Massakers ist dem geschuldet.

Jämmerlich ineffiziente Blink-Blink-Anlagen

Schließlich Mythos vier: Ampel seien effizient. Ohne sie würden sich alle blockieren oder rammen, niemand käme sicher und flott voran. Richtig ist: Autoströme aus verschiedenen Richtungen können sie gut voneinander trennen. Aber zu einem hohen Preis: Wo alle bei Grün erst anfahren müssen, kommen in einer Minute nur etwa 30 Autos pro Spur über die Ampel, mit Smartphone-Träumern noch weniger. Und oft müssen alle warten, obwohl niemand quer kommt. Dazu kommen die „Zwischenzeiten“: Die aus der einen Richtung habe gerade Rot bekommen. Aber da sie noch auf der Kreuzung sein könnten, bekommen die aus der anderen Richtung nicht gleich Grün. So verplempert die Ampel von jeder Minute paar kostbare Sekunden mit allgemeinem Stillstand.

Auch bei der Effizienz kommt das Fußvolk am schlechtesten weg. Nicht nur wegen der längsten Wartezeiten, auch wegen erzwungener Umwege: Wo an Kreuzungen Ampeln sind, da ist oft an anderen Stellen das Überqueren der Fahrbahnen völlig ungesichert. Will jemand an einer solchen Stelle nur zum Haus auf der anderen Straßenseite, aber die Ampel ist ein paar hundert Meter weg, kostet das Hin und Her auf beiden Seiten schon mal eine Viertelstunde extra, und langsame alte Menschen eine halbe.

Auch die wirtschaftliche Effizienz steht in Frage. Schon an kleineren Kreuzungen kann das Bauen einer Ampelanlage 250.000 Euro kosten,. Für Strom und Wartung kommt jedes Jahr eine fünfstellige Summe dazu. Ampeln belasten Deutschlands klamme Stadthaushalte jährlich mit Milliardenbeträgen.

Sicherheit oder Zeitsparen? Es geht nur eins

Unverdrossen bemühen sich Verkehrsplanerinnen und Elektroniker, Polizisten und Stadträtinnen, aus den teuren Blink-Blink-Anlagen das Beste zu machen. Aber sie bleiben im Ampel-Grunddilemma gefangen: Einerseits sollte hier am besten niemand anderen in den Weg fahren oder gehen. Andererseits: Je konsequenter man Links-, Geradeaus- und Rechtsfahrer, Radlerinnen und Fußgänger trennt und nacheinander laufen lässt, desto länger dauert es, bis der eigene Einzelstrom bei Grün fließen darf.

Zeit ist die einzige Ressource, die an der Ampel zu verteilen ist – und die lässt sich nicht vermehren. Darum sind mit dem Ergebnis alle unzufrieden. Schon weil man Grün immer nur kurz erlebt, dagegen bei Rot meist gefühlt viel zu lange herumhängen muss. Der Schweizer Autor Ralf Dobelli treibt das in einem hübschen Denkspiel ins Extrem: „Stellen Sie sich vor, Sie seien mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. In diesem Fall stünden Sie zu 99,99 % Ihrer gesamten Reisezeit wartend und fluchend vor einer roten Ampel.“

Bei so viel Verwirrung, Gefahr, Stress und Unmut drängt sich die Frage auf: Wieso gibt es überhaupt diese 70.000 Ärgerpunkte? Die Antwort ist recht einfach: Ampeln sind nötig, wenn 50 Stundenkilometer schnelle Fahrzeuge schadlos aneinander vorbei kommen sollen – und die nicht so schnellen Verkehrsteilnehmerinnen zwischen ihnen durch. Ohne Ampeln gäbe es in der Tat bei diesem Tempo und bei diesen Fahrzeugen mehr Unfälle und mehr Blockaden. LKWs und SUVs, Peugeots und Porsches stünden sich beim Kreuzen und Abbiegen gegenseitig im Weg. Und zwischen ihnen fänden Fußgängerinnen und Radfahrer überhaupt keinen sicheren Weg.

Bei 30 sind Ampeln meist unnötig

Aber so muss Verkehr nicht organisiert sein. Führen die Motorisierten langsamer, wäre es auch ohne Ampeln für alle sicherer. Das weiß auch die deutsche Straßenverkehrsordnung: In Tempo-30-Zonen soll es Ampeln nicht geben. Bei diesem Tempo könnte ein Großteil von ihnen verschwinden – und mit ihnen viel Gefahr, Ungerechtigkeit, Ineffizienz und Ärger. Zebrastreifen könnten hier das Gehen sichern und der Fahrverkehr sich nach der Rechts-vor-links-Prinzip organisieren. Und die Extrazeit durch langsameres Fahren? Die würden Autofahrer oft an der nächsten Ecke wieder einspielen: Keiner wartet sinnlos vor einer leeren Kreuzung, bloß weil irgendwann ein Verkehrskasper „Bei Rot musst du stehn“ befohlen hat.