Die Wissenschaft geht davon aus, dass bis 2050 zehn Milliarden Menschen auf der Welt leben werden. 70% aller Kinder werden zu diesem Zeitpunkt in Städten wohnen. Doch diese sind oftmals noch nicht auf die besonderen Bedürfnisse ihrer jüngsten Bewohner*innen abgestimmt – umso wichtiger ist es, durch kindgerechte Stadt- und Verkehrsplanung attraktive und sichere Lebensräume für Familien und Kinder zu gestalten.
Warum es sich lohnt, Städte durch Kinderaugen zu betrachten
Städte sind stets im Wandel und verändern sich durch Einflüsse wie die Industrialisierung, die Globalisierung, den Strukturwandel und auch den Klimawandel. Ein weiterer Faktor ist der demographische Wandel: das Durchschnittsalter unserer Bevölkerung steigt stetig an, wodurch es besonders wichtig ist, die Belange von Familien und insbesondere von Kindern in der Planung zu berücksichtigen. Dazu ist es sinnvoll, Kinder und Jugendliche frühzeitig in diesem Bereich zu bilden und einzubinden, damit ihren Wünschen an die Stadtplanung mit Hilfe von kindgerechten Partizipationsinstrumenten eine Bühne gegeben werden kann.
Laut des Psychiaters Mazda Adli, welcher sich auf Neurourbanistik (also die Erforschung der Auswirkungen von Städten auf die psychische Gesundheit) spezialisiert hat, müssen Kommunen Verantwortung dafür übernehmen, dass „Kinder Zugang zu den kulturellen und sozialen Ressourcen der Stadt haben, dass Freiräume für sie geschaffen werden ebenso wie geschützte Begegnungsorte, an denen sie auch auf andere Bevölkerungsgruppen wie alte Menschen oder Einwanderer treffen [...]."(Adli 2017: 142).[1]
Auch der Soziologe Richard Sennett fordert, städtische Räume so zu gestalten, dass Kinder „mittendrin im Geschehen" und somit Teil der Gesellschaft sein können. Sie müssen und sollten nicht „vor der Erwachsenenwelt beschützt" werden. (Sennett in: Adli 2017: 152-153)[1]
Aus den Ausführungen der Stadtsoziologin Martina Löw lassen sich ebenfalls Rückschlüsse auf die Relevanz der kindgerechten Stadtplanung ziehen. So schreibt sie, dass das Gestalten von Räumen immer ein Aushandeln von Machtverhältnissen zwischen den im Raum agierenden Menschen ist. Dabei haben nicht alle Menschen dieselbe Chance den Raum mitzugestalten, sodass es zur Benachteiligung und Begünstigung bestimmter Gruppen kommt. (Löw 2001: 227-228)[2]
Daraus ergibt sich, dass auf Kinder als Bevölkerungsgruppe mit wenig Autorität besonders Rücksicht genommen werden sollte, sodass auch sie sich bei der Gestaltung von Räumen einbringen können.
Pädagogische Ansätze in der Planung berücksichtigen
Schon die berühmte Pädagogin Maria Montessori (1870–1952) sprach sich dafür aus, die Umgebung von Kindern an ihren Bedürfnissen und Proportionen auszurichten. Auch ein Aufforderungscharakter ist für kindgerechte Räume essenziell – sie sollten zum Entdecken, Umgestalten und zur spontanen Bewegung einladen und somit Möglichkeit zur freien Entfaltung bieten.[3]
Verschiedene Pädagog*innen des 21. Jahrhunderts plädieren dafür, den Räumen der Kindheit mehr Bedeutung zukommen zu lassen. So schreibt W. Präger im Jahre 2013, dass die „Spielorte der Kindheit und die Treffpunkte der Jugend [...] ein Leben lang, oft weit entfernt von diesem Ort, im Gedächtnis bleiben". Mit ihnen wird der Grundstein für die Interaktion mit ihrer räumlichen und gebauten Umwelt gelegt. Es handelt sich um erste Schritte der Raumaneignung und -gestaltung. Umso wichtiger ist es, dass dies qualitätsvolle Räume sind, die dem frühen Bedürfnis nach Entfaltung und Raumerlebnis gerecht werden. (Laewen 2006: 96)[4]
Der Pädagoge Hans-Joachim Laewen bezeichnete 2006 Raum und Architektur gar als Erzieher, denn sie haben die Macht das Verhalten von Menschen in Situationen sozialer Interaktion zu beeinflussen. (Laewen 2006: 96)[4]
Bei der Gestaltung von kindgerechten Räumen sollte dementsprechend beachtet werden, dass Kinder den Raum intuitiv verstehen und erkennen, dass sie hier ihrem Bedürfnis nach Spiel und Bewegung nachkommen dürfen.
Internationale Projekte zur kindgerechten Stadt
Um das Ziel einer kindgerechten Stadt zu erreichen, haben sich weltweit verschiedene Vereine und Initiativen gebildet, die sich dieser Thematik verschrieben haben. Zwei davon werden im Folgenden vorgestellt.
Urban 95
Das Projekt Urban95 der Bernard van Leer Foundation konzentriert sich explizit auf Babys und Kleinkinder sowie deren betreuende Personen. Der Name „Urban95“ leitet sich dabei von der durchschnittlichen Körpergröße eines 3-jährigen Kindes ab: 95 cm.[5]
Ein häufig genannter Ansatz in der Stadtplanung ist der vom dänischen Architekten und Stadtplaner Jan Gehl geprägte Begriff „human scale“. Dabei wird versucht die Städte menschen- und nicht etwa autogerecht, wie es im 20. Jahrhundert häufig der Fall war, zu planen. Der Mensch fungiert also als Maßstab. Doch unsere Körpergröße ist bekanntlich nicht genormt – und so fragt das Projekt urban95: „Wenn du die Stadt aus 95 cm Höhe erleben könntest – also der Körpergröße eines 3-jährigen Kindes – was würdest du ändern?“[5]
Das Projekt hat u.a. folgende Ziele formuliert:
Als konkrete Maßnahmen fordern sie z.B. die Schaffung öffentlicher Räume, die zum Singen, Unterhalten und Spielen ermuntern sowie gemeinschaftlich genutzter Straßen („shared streets“), um zur Nutzung von ökologisch saubereren, sichereren und gerechteren Fortbewegungsarten zu motivieren.[5]
Childfriendly cities initiative / Kinderfreundliche Kommunen e.V.
Eine weitere wichtige Anlaufstelle ist die von Unicef geführte Initiative „childfriendly cities initiative“ (CFCI), welche Regierungen weltweit seit 1996 dabei unterstützt, ihre Städte kinderfreundlicher zu gestalten. Als Grundlage dient dabei die UN-Kinderrechtskonvention.
In Deutschland agiert der Verein „Kinderfreundliche Kommunen e.V.", der auf Basis der CFCI gegründet wurde und der die Ziele national umsetzt.
Dazu gehört laut CFCI auf Verwaltungsebene, dass Kinder ihre Meinung mitteilen und Entscheidungen beeinflussen können, die sich auf sie auswirken. Ebenso müssen die Städte sicherstellen, dass Kinder hochwertige, inklusive und partizipatorische Bildung und Kompetenzentwicklung erfahren können. Die Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Stadtleben sollte Kindern stets ermöglicht werden. Auf planerischer Ebene fordern sie konkret eine sichere und saubere Umwelt mit Zugang zu Grünräumen sowie Treffpunkte und Orte zum Spielen und Spaß haben.[6]
Der Verein „Kinderfreundliche Kommunen e.V.“ erarbeitet gemeinsam mit deutschen Kommunen verschiedener Größe Aktionspläne, wie sie die UN-Kinderrechtskonvention in ihre Verwaltungsebene implementieren und somit ihre Stadt kinderfreundlicher gestalten können. Nach einer positiven Evaluation wird das Siegel „Kinderfreundliche Kommune“ verliehen.[7]
Kinderfreundliche Kommunen e.V. hat für seine Arbeit vier Schwerpunkte formuliert[7]:
Diesen vier Schwerpunkten gehen die Kommunen mithilfe unterschiedlicher Maßnahmen nach, um das Ziel einer kindgerechten Stadt zu erreichen und somit das dazugehörige Siegel verliehen zu bekommen, welches vor allem als weicher Standortfaktor bei Familien Anklang finden soll. Köln ist die bisher größte deutsche Stadt, die dieses Siegel trägt, aber auch Städte wie Potsdam, Wolfsburg oder Stuttgart nehmen am Programm teil.[7]
Kindgerechte Verkehrsplanung – und warum sie nötig ist
Bei der Planung kindgerechter Städte spielt auch insbesondere der Straßenverkehr und somit die Verkehrsplanung eine wichtige Rolle. Deutlich wird dies auch dadurch, dass all die vorher beschriebenen Initiativen explizite Forderungen an die Verkehrssituation stellen. So werden neben der kindgerechten Gestaltung von öffentlichen Räumen auch sichere Verkehrskonzepte, gemeinschaftlich genutzte Straßen mit sichereren Verkehrsmitteln und eine fußläufige Erreichbarkeit aller für Kinder relevanter Einrichtungen gefordert. Um dem übergeordneten Ziel der Verkehrssicherheit für Kinder näherzukommen, sollte die Verkehrsplanung diesen Aspekt bei allen Vorhaben stets mitbedenken.
Wie die Erhebung „Mobilität in Deutschland 2017“ des Bundesverkehrsministers zeigt, sind insbesondere Schulkinder häufig zu Fuß unterwegs. Der Weg zur Schule bringt Bewegung in den Alltag der Kinder, fördert den Austausch und die Entstehung von Freundschaften zwischen den Kindern und schult die Selbstständigkeit und die Kompetenz im Umgang mit Gefahren und Verkehrsregeln. Um mehr über die genannte Erhebung zu erfahren, lesen Sie gerne unseren Artikel zum Thema „Wie bewegen sich Kinder?“.
Trotz dieser entwicklungspsychologischen Vorteile steht nach wie vor viel zu oft das Auto und nicht etwa der Mensch im Fokus der Planungen. Selbst Verkehrssituationen, die Erwachsene als sicher und angenehm empfinden, bergen für Kinder oft unerwartete Risiken. Wie im oben verlinkten Artikel bereits ausgeführt wurde, liegt dies schon allein in ihrer Körpergröße begründet – und zeigt erneut, wie wichtig der Ansatz des vorgestellten Projekts Urban95 ist. Denn während erwachsene Personen problemlos über parkende Autos hinweg gucken können, wird die Einsicht des Straßenraums für Kinder extrem eingeschränkt – und auch sie werden schnell übersehen.[8]
Zusätzlich verändern die sich in der Entwicklung befindlichen Sinne und Fähigkeiten die Ansprüche von Kindern an die Verkehrssicherheit. Sie können Distanzen und Geschwindigkeiten schwerer einschätzen, sind schnell abgelenkt und haben eine längere Reaktionsdauer.[8]
Gleichzeitig verfolgt das Zufußgehen für Kinder und Jugendliche häufig nicht nur den Zweck der Fortbewegung. Stattdessen stellt der Weg selbst ein Erlebnis dar. Der Straßenraum wird zum Spielplatz, man trifft sich, um gemeinsam durch die Straßen zu ziehen. Daraus ergibt sich, dass nicht nur die Schulwege besonders kindgerecht konzipiert werden müssen, sondern dass der gesamte Stadtverkehr den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden muss.[9]
Konkrete Maßnahmen einer kindgerechten Verkehrsplanung wären u.a.[9]:
Mit einer flächendeckenden Umsetzung dieser und weiterer Maßnahmen sowie der partizipatorischen Einbindung von Kindern und Jugendlichen in die Planungsprozesse würde die Verkehrssicherheit für sie, aber nicht nur für sie, ansteigen.
Denn wie der Journalist George Monbiot schon sinngemäß sagte: Kinder sind eine Art Indikator. Wenn wir erfolgreich Städte für Kinder planen, funktionieren sie auch für alle anderen Menschen gut.
Umso wichtiger ist das aktuell laufende Projekt „Kinder bewegen sich selbst und ihre Welt“ von FUSS e.V., das die Partizipation von Kindern in den Mittelpunkt stellt und diese zu Wort kommen lässt. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse!
Quellen:
- Adli, M. (2017): STRESS AND THE CITY. München.
- Löw, M. (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main. S.227-228.
- Wilk, M./Jasmund, C. (2015): Kita-Räume pädagogisch gestalten. Weinheim und Basel. S.67-68.
- Laewen, H-J. (2006): Funktionen der institutionellen Früherziehung: Bildung, Erziehung, Betreuung, Prävention. In: Fried, L./Roux, S. (Hg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim und Basel. S. 96–107.
- Bernard van Leer Foundation (o.J.): www.bernardvanleer.org/solutions/urban95/
- Alle Informationen von www.childfriendlycities.org/ z.B. unter „What is a child-friendly city?“ & „Framework“
- Kinderfreundliche Kommunen e.V.: Alle Infos von www.kinderfreundliche-kommunen.de unter „Merkmale einer kinderfreundlichen Kommune“ & „Kommunen“
- Kinderbüro Steiermark (2008): Broschüre „Kindgerechter Verkehr“ www.jumo-online.de/pdf/KIB_VerkehrsBrosch_1_.pdf
- FIS (2021): www.forschungsinformationssystem.de/ zu „Fußgängerwegenetze von Kindern & Jugendlichen“ & „Mobilitätanforderungen von Kindern & Jugendlichen“